Kinderarbeit:Wie Flüchtlingskinder ausgebeutet werden

Syrian Refguees Trying To Survive In Turkey Work For Minimum Wages

Ein junger Syrer bei der Arbeit in einer Schuhfabrik im türkischen Gaziantep.

(Foto: Chris McGrath/Getty Images)
  • Im sechsten Jahr des Syrienkrieges nimmt Kinderarbeit in den angrenzenden Staaten und entlang den Fluchtrouten durch Europa zu.
  • Flüchtlingskinder werden notgedrungen zur Familienernährern.
  • Mehr als die Hälfte der befragten Kinder müssen laut dem "Kinderarbeitsreport 2016" der Kinderhilfsorganisation Terre des Hommes mindestens sieben Stunden täglich arbeiten.

Von Ulrike Heidenreich

Wenn Kinder es schaffen, dem Krieg zu entfliehen, sind sie längst nicht außer Gefahr. Sie werden ausgebeutet, als Soldaten rekrutiert, müssen in Fabriken oder auf Baustellen schuften - und manchmal verschwinden sie einfach, Schicksal ungewiss. Im sechsten Jahr des Syrienkrieges nimmt Kinderarbeit in den angrenzenden Staaten und entlang den Fluchtrouten durch Europa zu. Die Kinderhilfsorganisation Terre des Hommes (TdH) hat in Zusammenarbeit mit UN-Organisationen Belege dafür gefunden. Mehr als die Hälfte der befragten Kinder müssen demnach mindestens sieben Stunden täglich arbeiten. Ein Drittel arbeitet sieben Tage die Woche. Viele sind erst fünf oder sechs Jahre alt.

Es ist pure Not, die Flüchtlingsfamilien dazu zwingt, ihre Kinder arbeiten zu lassen. Noch im Jahr 2011 etwa gab es in Jordanien relativ wenig Kinderarbeit, elf Prozent der befragten Arbeitgeber gaben damals an, Minderjährige eingestellt zu haben. Inzwischen sind es 84 Prozent. Laut dem "Kinderarbeitsreport 2016", welcher der Süddeutschen Zeitung vorliegt, hat dies simple Gründe: Die Eltern haben ihre Ersparnisse aufgebraucht, alle Wertgegenstände verkauft, sie selbst erhalten nur schwer eine Arbeitserlaubnis. "Ihnen bleibt keine Wahl. Sie müssen auf drastischere Überlebensstrategien zurückgreifen", sagt Albert Recknagel, Vorstand von Terre des Hommes. Etwa die Hälfte der 13,5 Millionen syrischen Flüchtlinge sind Jugendliche. Er warnt: "Kinder leiden doppelt - als besonders schutzlose Opfer von Krieg und Flucht und als billige Arbeitskräfte in den Nachbarregionen Syriens, sei es auf Großbaustellen, auf Orangenfeldern, als Bettler oder als zwangsrekrutierte Kämpfer der verschiedensten Kriegsparteien."

Fälle von Kinderarbeit im griechischen Idomeni

Syrische und irakische Kinder, die während ihrer Flucht durch Griechenland von der Partner-Organisation Arsis befragt wurden, gaben Einblick in diese Arbeitsbedingungen. Sie selbst schätzen ihre Lage ausgesprochen nüchtern ein: Für sie ist vor allem wichtig, die Eltern bei der Beschaffung von Essen oder Medikamenten zu unterstützen. Ein Ziel ist es oft auch, Geld für die weitere Flucht zu verdienen. Sofern die Arbeit ihre "körperlichen Kapazitäten" nicht überfordere oder "wenn die Arbeit nicht mehr als 20 Stunden am Tag beansprucht", sei dies nicht problematisch für sie gewesen, heißt es wörtlich im Bericht. Ein Kind gab an, vor der Flucht aus dem Kriegsgebiet an Bestattungen beteiligt gewesen zu sein. Es sei dies eine "geeignete" Arbeit für Kinder, sagte der Junge: "Wir können uns um getötete Menschen kümmern; zum Beispiel können wir ihre Körperteile einsammeln, um sie zu begraben."

96 Kinder zwischen acht und 18 Jahren hatten TdH-Mitarbeiter im März und April zu Gruppendiskussionen eingeladen. Alle gaben an, in Jordanien, Libanon, im Irak oder in der Türkei mit der Arbeit begonnen zu haben, sobald sie diese Länder erreicht hätten (siehe Protokoll). Selten besuchten sie nebenbei noch die Schule. Vor Beginn des Krieges lag die Einschulungsrate für Grundschüler in Syrien bei mehr als 90 Prozent. Mädchen und Jungen besuchten zu beinahe gleichen Teilen die Schule.

Die Mehrheit der arbeitenden Kinder aus Syrien im Nachbarland Jordanien sind Jungen. 66 Prozent waren 16 und 17 Jahre alt, 30 Prozent zwölf bis 15 Jahre alt und vier Prozent zwischen fünf und elf. Sie arbeiten als Putzhilfen, bedienen in Restaurants, verkaufen Kaugummis und Blumen auf der Straße, sammeln Müll auf, arbeiten auf Baustellen. Die Mädchen gaben an, "leichtere Arbeiten" verrichten zu müssen: Weben, Tätigkeiten in Schönheitssalons und in Haushalten.

Temporäre Ehe

Die Zahl der Flüchtlingsfamilien, die ihre Töchter zur Arbeit schicken, ist niedrig: Sie fürchten, die Mädchen könnten sexuell missbraucht werden. Untersuchungen des US-Außenministeriums im Irak, auf die sich der Report beruft, haben jedoch ergeben, dass einige Flüchtlingsmädchen durch ihre Familien in Not kommerzieller sexueller Ausbeutung ausgesetzt seien. Eine bestehende Praktik wird als temporäre Ehe bezeichnet: Hier wird eine Zeitdauer für die Ehe festgelegt und eine Mitgift an die Familie ausgezahlt. Die TdH-Experten bezeichnen dies als eine der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, ebenso wie die Rekrutierung Minderjähriger zu Soldaten. Fazit: "Anders als in einem konfliktfreien Umfeld scheint das Zusammenleben mit der Familie Flüchtlingskinder nicht vor Kinderarbeit zu bewahren."

Einer der schwersten Verstöße gegen Kinderrechte ist die Rekrutierung von Kindern für den Kampf. Das Kinderhilfswerk Unicef hat im kurdischen Teil des Irak und in den durch den IS kontrollierten Gebieten eine Zunahme beobachtet. Immer jüngere Kinder - von sieben Jahren an - und auch Mädchen würden angeworben, heißt es in dem Bericht an den UN-Sicherheitsrat. In zwei Dritteln der Fälle mussten die Kinder kämpfen, fast jedes fünfte war unter 15 Jahren. Die Entlohnung ist relativ hoch: In vielen Fällen erhielten ihre Familien Sold von bis zu 400 Dollar im Monat. Kinder, die auf der Straße arbeiten, verdienen etwa drei bis sechs Euro am Tag.

Flüchtlingskinder übernehmen zunehmend die Rolle des Familienernährers, unabhängig davon, ob sie in offiziellen Lagern oder in Städten leben. Dies hat sich verschärft, seitdem die Vereinten Nationen ihre Rationen im Winter 2014/2015 aufgrund mangelnder Finanzierung der internationalen Gemeinschaft kürzen mussten, heißt es in dem Report. Nach Schließung der Balkanroute wurden den Kinderhilfsorganisationen zudem erste Fälle von Kinderarbeit im griechischen Idomeni und in Mazedonien gemeldet. Wegen der Rückstaus vor gesperrten Grenzen rechnen die Mitarbeiter damit, dass diese Fälle zunehmen. Denn die Aufenthaltsdauer der Kinder verlängert sich so - und den Familien geht auch hier das Geld aus.

Appell an Deutschland

Weil Deutschland eines der wichtigsten Zielländer für Flüchtlinge ist, appelliert Terre des Hommes an die Bundesregierung, endlich zuverlässige und einheitliche Registrierungssysteme zu schaffen. Anfang des Jahres hatten Zahlen von Europol Bestürzung ausgelöst, wonach 10 000 Kinder auf dem Weg nach Europa verschwunden seien. Dies war zwar eine Rechnung mit vielen Unbekannten, Mehrfachregistrierungen und Fehlern. Trotzdem seien dringend neue Vorsorge- und Schutzmechanismen nötig, mahnt Recknagel: "Wir müssen das Leben syrischer Flüchtlingskinder etwas erträglicher gestalten."

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