Karl-Heinz Kurras:Ein deutsches Leben

Von den Kommunisten verurteilt und dann zu ihnen übergelaufen - die Verstrickungen des ehemaligen Polizisten und Stasi-Agenten Karl-Heinz Kurras, der 1967 Benno Ohnesorg erschoss.

Hans Leyendecker

Als der Mann, der am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg erschoss, sich fünf Monate nach der Tat im Saal 500 des Moabiter Kriminalgerichts wegen fahrlässiger Tötung verantworten musste, schilderte er zunächst vor der 14. Großen Strafkammer seinen Lebenslauf: "Hohes Gericht", sagte Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras: "Ich war im KZ". Nach dem Krieg, in Sachsenhausen.

Karl-Heinz Kurras: Karl-Heinz Kurras wurde als Stasi-Spion enttarnt. Als Beamter der Westberliner Polizei erschoss er 1967 den Studenten Benno Ohnesorg.

Karl-Heinz Kurras wurde als Stasi-Spion enttarnt. Als Beamter der Westberliner Polizei erschoss er 1967 den Studenten Benno Ohnesorg.

(Foto: Foto: ddp)

Im Alter von 18 Jahren, erzählte der im Dezember 1927 als Sohn eines ostpreußischen Dorfgendarms geborene Angeklagte, habe er sich 1946 als Wahlhelfer betätigt und sei dann von den Kommunisten wegen antisowjetischer Propaganda verhaftet und zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden.

Drei Jahre lang sei er in Haft gewesen und dann begnadigt worden. Nachdem er sich von den Haftfolgen erholt habe, sei er zur Westberliner Polizei gegangen.

Viel Stoff für Spekulationen

Was der Todesschütze Kurras damals nicht sagte: Sechs Jahre nach der Entlassung aus Sachsenhausen, genau am 19. April 1955, hatte er in den Osten rübergemacht und seine Arbeitskraft einschließlich seiner damals schon beträchtlichen Zielkünste dem kommunistisch regierten Deutschland angeboten.

Das brauchte ihn woanders, im Westen als Agent bei der Polizei. Kurz darauf bekam Kurras den Decknamen Otto Bohl, war fortan Spion der Stasi und später auch heimliches und möglicherweise stolzes Mitglied der SED.

Seine Ostberliner Akte zeigt, dass er vor Gericht mit der KZ-Geschichte etwas übertrieben hat. Laut einem Auskunftsbericht der Stasi ("Vorstrafen") war er vom 9.12.1948 bis 13.3.1950 in Sachsenhausen: "Internierung erfolgte durch die Freunde" steht in der Akte.

Das Leben des Mannes, den die sowjetischen Freunde erst einsperrten und der dann zu den Kommunisten überlief, liefert in diesen Tagen viel Stoff für Spekulationen über die Achtundsechziger und was gewesen wäre, wenn das alles damals öffentlich im Gericht behandelt worden wäre.

Einige Blätter hatten damals geschrieben, die Studenten seien ferngesteuert durch die Machthaber jenseits der Mauer. War der Mann, der am Abzug war, ferngesteuert? Das ist die Frage, die sich jetzt aufdrängt.

Beifallsstürme älterer Damen

Der Schuss auf Ohnesorg hat die Republik ein Stück verändert, aber mindestens so bedeutsam war auch der Ausgang der Prozesse gegen Kurras, der immer wieder freigesprochen wurde, was die Prozessbesucher, überwiegend ältere Damen, zu Beifallsstürmen anregte.

Seine Kollegen von der Polizeigewerkschaft, die heute nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen, bezahlten seinen Anwalt. Sie wussten freilich nicht, dass möglicherweise auch die Stasi für einen Teil der Anwaltskosten aufgekommen ist.

Das Kurras-Verfahren hat manchem jungen Menschen in jenen Jahren den Glauben an den Rechtsstaat genommen. Für den grünen Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele, der damals im Prozess gemeinsam mit Otto Schily einer der Nebenkläger war, war die Behandlung des Falls Kurras durch Justiz und Politik der "Auslöser für die Ablehnung des Staates".

Durch Lektüre alter, verstaubter Prozessunterlagen, alter Prozessberichte und vor allem dank der Dokumentation des Autors Uwe Soukup über die Ereignisse des 2. Juni, lässt sich nachvollziehen, was damals vor allem die Jungen so erbitterte und nicht nur Ströbele zu Gegnern des Staates machte. Denn die Geschichte, die der Angeklagte Kurras im November 1967 vor Gericht erzählte, war eine Geschichte, die schon damals eigentlich niemand glaubte.

Auf der nächsten Seite: Kurras' Version des Tathergangs, Verdunkelungsgefahr und ein sehr autoritärer Charakter.

"Das ist der Bulle, schlagt ihn tot"

Er habe gemeinsam mit Kollegen den Auftrag gehabt, nach Rädelsführern Ausschau zu halten, sagte Kurras. Das immerhin ließ sich belegen. Dann, so gab er an, habe er sich "pflichtgemäß, unparteiisch und unbefangen" an dem Geschehen beteiligt. "Das ist der Bulle, schlagt ihn tot", habe er gehört. Er sei "plötzlich umringt worden, von allen Seiten. "Von zehn oder elf Personen" sei er brutal niedergeschlagen worden. Er sei misshandelt worden und habe im Liegen seine Dienstwaffe gezogen; erst einen Warnschuss und dann unabsichtlich den tödlichen Schuss abgegeben. Notwehr. "Ich bin gejagt worden, ich bin gehetzt worden."

Karl-Heinz Kurras Ohnesorg Stasi, dpa

Karl-Heinz Kurras vor Prozessbeginn 1967: Der Polizist gab an, er habe in Notwehr gehandelt. Mit dieser Sichtweise war er allein.

(Foto: Foto: dpa)

Das Problem an dieser Geschichte war nur, dass keiner der knapp 60 Zeugen diesen Ablauf bestätigen konnte. Sicher war nur, dass Kurras nicht bedrängt worden ist. Die Messer, die Angreifer hatte nur er gesehen.

Vegetative und neurotische Probleme

Die Beweisaufnahme ergab, dass Kurras nach dem Schuss seine Kleidung zur Reinigung gegeben hatte, und die Waffe, die er abgab, hatte er mit einem ausgetauschten Magazin abgeliefert. Normalerweise kommt so einer wegen Verdunkelungsgefahr in Untersuchungshaft. Dafür musste man damals nicht Student sein.

Ein Psychiater fand eine Erklärung, die ansonsten sehr selten in Gerichtssälen zu hören ist. Das Vorliegen der einschlägigen Paragraphen 51,1 und 51,2 müsse er verneinen, aber der Angeklagte habe vegetative und neurotische Probleme gehabt. Spiegel-Gerichtsreporter Gerhard Mauz merkte damals an, es müsse sich um einen "im Gesetz nicht befindlichen Paragraphen 51,3" gehandelt haben.

Der Staatsanwalt beantragte acht Monate auf Bewährung, das Gericht sprach Kurras frei, obwohl die Tat "eindeutig rechtswidrig" gewesen sei und der Angeklagte es mit der Wahrheit nicht so ernst genommen habe. Er sei nun mal zum Zeitpunkt der Tat "in seiner Kritik- und Urteilsfähigkeit eingeschränkt gewesen". Und weil das Gericht nicht alle Beweismöglichkeiten ausgeschöpft hatte, kam es dann zur Revision.

Die nächste Verhandlung fand im Frühjahr 1968 statt und wurde ausgesetzt, weil einer der Nebenkläger nicht in der vorgeschriebenen Robe auftreten mochte. Der Vorsitzende Richter meinte, solch ungebührliches Verhalten könne eine Beschwerung für den Angeklagten sein. Anfang 1970 beschloss das Gericht, das Verfahren wieder aufzunehmen, und in dem neuen Verfahren stellte der Verteidiger seinen Mandanten als Opfer vor.

Kurras schwieg "aus Protest"

Kurras alias Agent Bohl war demnach einer der ersten, der "am eigenen Körper die aufgegangene Saat der Gewalt spüren musste". Kurras schwieg in dem dritten Prozess "aus Protest". Er wurde im Dezember 1970 wieder freigesprochen, weil es nicht widerlegbar sei, so das Gericht, dass er sich in einer lebensbedrohlichen Lage glaubte. Im März 1971 wurde das Urteil rechtskräftig.

Lange Jahre zuvor war Kurras von der Mehrheit eines Berliner Untersuchungsausschusses als ein Opfer der Verhältnisse vorgestellt worden. Er ging 1987 als Kriminaloberkommissar in Rente.

Anlässlich von Jahrestagen des Todes von Benno Ohnesorg waren die Ereignisse des 2. Juni immer wieder Thema. 1997 berichtete ein Polizist im Spiegel, er habe einen halben Meter hinter Kurras gestanden und gesehen, wie der Kollege aufrecht stand und auf Ohnesorg zielte. "Bist du wahnsinnig, hier zu schießen?", will der Beamte gerufen haben. "Die ist mir losgegangen", soll Waffennarr Kurras, der einer der besten Schützen der Berliner Polizei war, gesagt haben. Der Polizist will sich damals gesorgt haben, dass Kurras versehentlich einen Kollegen erwischte.

Kurras blieb zeitlebens uneinsichtig. "Ich hätte hinhalten sollen, dass die Fetzen fliegen", sagt er 2007 einem Reporter des Sterns.

Vor allem zielsicher

Dieser Mann, der schon früh sehr viel trank und eine sehr zerrissene Persönlichkeit zu sein scheint, war nach der Schilderung von Bekannten ein sehr autoritärer Charakter. Solche Typen gibt es in allen Milieus und vermutlich auch in allen Systemen. Er war vermutlich nicht links, nicht rechts, sondern vor allem zielsicher. Die Demonstranten damals kannten seine wahre Geschichte nicht, aber sie spürten vermutlich, dass die Justiz sich schwer tat, unparteiisch das Recht zu suchen.

Verfahren wegen Bagatellen wie in den Prozessen gegen Fritz Teufel zogen sich wochenlang hin, was auf besondere Sorgfalt des Gerichts schließen ließ. In dem ersten Verfahren gegen Kurras hingegen, bei dem es immerhin um die Tötung eines Studenten ging, hatte das Gericht gleich darauf aufmerksam gemacht, dass es anderweitig verplant sei und den Prozess möglicherweise ergebnislos abbrechen müsse.

Jetzt, in diesen Tagen, hat es einige Strafanzeigen gegen Kurras gegeben, aber es wird höchst wahrscheinlich keinen neuen Prozess geben. Die Hürden für ein Wiederaufnahmeverfahren sind sehr hoch. Nur ein Mordgeständnis von Kurras könnte rechtlich die Lage ändern. Solche Geständnisse gibt es nur in Lehrbüchern.

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