Kanzlerin Angela Merkel wird 60:Der Sommer der Patriarchin

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Die Neue aus dem Osten: Angela Merkel, damals Bundesfrauenministerin, im Jahr 1991 während des CDU-Parteitags in Dresden. (Foto: Michael Jung/dpa)

Während einer langen Parteikarriere und in neun Jahren Kanzlerschaft hat Angela Merkel gelernt, wann Visionen dem Pragmatismus weichen müssen. Nun, im zarten Politikeralter von 60 Jahren, steht die CDU-Chefin im Zenit ihrer Macht.

Von Stefan Braun, Berlin

Neulich im Kanzleramt. Der estnische Regierungschef Taavi Rõivas ist zu Gast. Er ist 34 Jahre alt. Er bemüht sich, selbstbewusst und wie ein Ministerpräsident aufzutreten. Dabei könnte er Angela Merkels Sohn sein.

Ein guter Sohn übrigens, denn der Besucher aus Tallinn verspricht der Kanzlerin, dass er den Reformkurs seines Landes entschieden vorantreiben werde. Dabei schaut er freundlich und sehr ehrfürchtig auf die Frau an seiner Seite. Die Kanzlerin, das rückt diese Szene ins Bewusstsein, ist für Politiker wie Rõivas nicht nur eine Kollegin, sondern längst eine mütterliche Ratgeberin geworden.

Ob die Gäste wie Serbiens Ministerpräsident Aleksandar Vučić in die EU möchten oder wie Italiens neuer Regierungschef Matteo Renzi längst dazugehören - jedes Mal gibt es vor der blauen Pressewand des Kanzleramts die Botschaft: Wir werden gute Partner sein und alles versuchen, um die Erwartungen nicht zu enttäuschen. Im Jahr 2014 ist Merkel eine Kanzlerin, an der sich sehr viele in Europa ausrichten.

Wieder zur mächtigsten Frau der Welt gekürt

Am 17. Juli wird diese Kanzlerin sechzig Jahre alt. Und aus der einst aggressiv belächelten "Mutti" der CDU ist eine politische Patriarchin geworden. Das "Mutti" entstammt einer Zeit, als der Begriff vor allem in ihrer Partei abfällig gemeint war. Es sollte jene, die früh an ihrer Seite kämpften, wie unselbständige Kinder aussehen lassen.

Das Wort Patriarchin beschreibt, was Merkel nach bald neun Jahren Kanzlerschaft erreicht hat: Sie ist die nicht von allen geliebte, aber unangefochtene Regentin Europas. Das Time Magazine hat sie eben erst wieder zur mächtigsten Frau der Welt gekürt, und niemand wundert sich noch darüber. Nur wenn sie es nicht mehr wäre, könnte das Aufsehen erregen.

Wie unvorhersehbar das war, als sie 2005 ins Kanzleramt einzog, hat sie mal in einer ruhigen Minute eingestanden. Es war am 21. November desselben Jahres, am nächsten Tag soll Merkel zur Kanzlerin gewählt werden. Zum Abschied aus dem alten Leben hat sie zu einem kleinen Essen nebst Umtrunk eingeladen. Als sie kurz vor dem Ende an einem Stehtisch gefragt wird, was denn ihr Mann über eine Kanzlerin Angela Merkel denke, antwortet sie: "Der staunt, was ich mir alles zutraue."

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Der Satz ist auf grandiose Weise ehrlich. Stolz klingt da aus der Frau, die die erste Kanzlerin werde möchte. Und es schwingen Zweifel mit, die Zweifel des eigenen Ehemannes. Dass damals nicht nur Joachim Sauer so dachte, wusste Merkel. Ihr kurzer Satz war die beste Zustandsbeschreibung.

Nun könnte man sagen, dass der Weg der Physikerin, die Politikerin wurde, von außen betrachtet wie eine normale Politikerkarriere aussieht. Parteisprecherin, stellvertretende Regierungssprecherin, dann Frauenministerin, Umweltministerin, schließlich Parteichefin, Fraktionschefin, Oppositionsführerin - bis sie 16 Jahre nach dem Einstieg in die Politik ins Kanzleramt einzieht. Doch dieser Aufstieg erzählt nichts darüber, was diese Kanzlerin, die in den Wirren einer zusammenbrechenden DDR im Spätherbst 1989 in die Politik geht, wirklich antreibt und ausmacht.

Da sind ihr Ehrgeiz und Wunsch, Politik zu machen. Dieser war kürzlich wieder auf einer Auslandsreise zu studieren: eine Hotelbar in Peking, die Kanzlerin lädt zum Hintergrundgespräch nach zweieinhalb Tagen China. Die Kanzlerin spricht offen über umwälzende Prozesse, über die Sorgen im Riesenreich der Mitte. Sie redet über Wanderarbeiter, Autofabriken und rasendes Wachstum bei dramatischer Luftverschmutzung, über fehlende Arbeitsplätze für Millionen, schließlich über tausend Jahre Geschichte und eine pfeffrige Sichuan-Küche.

Dabei geht es ihr vor allem um eines: um ein unglaublich schnelles Land, das dem sehr gemächlichen Europa brutal den Spiegel vorhält. Merkel ist Dauerstudentin in Weltentwicklung. Kein Wunder, dass sie zu ihrem Geburtstag den Historiker und Globalisierungsexperten Jürgen Osterhammel um einen Vortrag gebeten hat. Merkel ist überzeugt davon, dass das Leben nie stillsteht. Gerade deshalb will sie Europas Zukunft in einer sich neu ausrichtenden Welt sichern. Das ist es, was sie am meisten antreibt.

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Doch zur Politikerin Merkel gehört eine zweite Rolle: die der Chefpragmatikerin Deutschlands. Den Ursprung ihres politischen Total-Pragmatismus erklärt eine Szene im Vorstandszimmer der CDU-Parteizentrale. Wieder ist es ein Abend im Jahr 2005, am 18. September, dem Tag der Bundestagswahl, bei der Angela Merkel fast um Haaresbreite gescheitert wäre.

Das Entsetzen beim Anblick der ersten Hochrechnung hat sich ihr ins Gedächtnis gebrannt. Von Umfragewerten um die 45 Prozent ist die Union auf gerade noch 35 Prozent gefallen: Merkel hatte im Gefühl eines sicheren Sieges für umfassende Reformen in der Gesundheits- und Steuerpolitik geworben. In dieser Nacht lernt sie, dass ihre Sicht auf die Welt und der daraus entspringende Reformeifer in dieser Gesellschaft nicht goutiert werden. In dieser Nacht wird sie kein anderer Mensch.

Aber sie kommt zu dem Schluss, dass ihre Überzeugungen nur äußerst sparsam in ihr Programm einfließen sollten.

Leben in zwei Welten

Die Folgen sind gravierend. Eine Merkel, die auf die chinesische Herausforderung richtig reagieren wollte, dürfte nicht die Renten in Deutschland erhöhen. Aber eine Merkel, die in diesem Deutschland politisch überleben will, richtet sich an den Mehrheiten im Parlament aus - und erhöht dafür auch die Rente.

So gesehen lebt Merkel in zwei Welten. Der Welt, die sie in der Sache antreibt, und jener, in der sie um ihre Macht kämpft. Nichts erklärt besser, warum Merkel Gerhard Schröders Agenda 2010 stets richtig fand, aber einen derart riskanten Schritt selbst nie machen würde.

Mut und Nervenstärke hat sie trotzdem. Sie hat beides nur für einen ganz anderen Kampf verwendet. Was Merkel nach ihrer Wahl zur CDU-Chefin im April 2000 erlebt hat, sucht seinesgleichen. Die Partei hatte sie zur obersten Trümmerfrau des eigenen Spendenskandals auserkoren. Danach sollte sie ihren Platz wieder räumen. Christian Wulff, Roland Koch, Jürgen Rüttgers, Friedrich Merz - sie alle wollten sie wieder loswerden. Mit kleinen und größeren Intrigen oder offenen Revolten.

Die Rivalen sind allesamt gescheitert, gestürzt, zurückgetreten. Und Merkel ist im Zenit ihrer Macht angekommen. Selten haben das Abwarten und Nervenbewahren so umfassend triumphiert wie bei Angela Merkel.

© SZ vom 17.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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