Kanada:Aus Prinzip offen

Warum Kanadas Premierminister Justin Trudeau das Freihandelsabkommen mit den Europäern so wichtig ist.

Von Nikolaus Piper

Wer Kanadas Ministerpräsidenten Justin Trudeau und dessen Frustration über den Umgang der Europäer mit dem Handelsabkommen Ceta verstehen will, der sollte Natalie kennenlernen. Natalie ist eine junge Frau aus Montreal, die Trudeau im Februar 2014 in seiner Rede vor dem Parteitag der Liberalen Partei Kanadas erfand. Natalie verdient 40 000 Dollar im Jahr, ebenso viel wie ihr Mann. Sie hat zwei Kinder und fährt jeden Tag zur Arbeit, wobei sie regelmäßig im Stau auf Montreals Champlain-Brücke steht, weil Kanadas Infrastruktur überlastet ist. Sie macht sich Sorgen um ihre Zukunft und noch mehr um die ihrer Kinder. Kann sie ihnen eine anständige Ausbildung ermöglichen? Wird sie selbst im Alter genügend Geld haben?

An Menschen wie Natalie seien die Erfolge der kanadischen Wachstumspolitik der vergangenen 30 Jahre vorbeigegangen, sagte Trudeau. Diese im Prinzip kluge Politik - die Growth Agenda - bestand aus Investitionen in die Erziehung, Haushaltsdisziplin und Offenheit für den Handel. Wenn es aber jetzt nicht gelinge, die Erträge aus dieser Politik gleichmäßiger zu verteilen, dann würden Leute wie Natalie aufhören, sie zu unterstützen. "Das würde uns alle ärmer machen", sagte Trudeau.

Eine Botschaft verhalf Trudeau zum Wahlsieg: "Wachstum plus sozialer Ausgleich"

Mit dieser Botschaft - Wachstum plus sozialer Ausgleich - errang Trudeau einen überwältigenden Wahlsieg und löste 2015 den konservativen Ministerpräsidenten Stephen Harper ab. Zu seinem Programm passte es auch, das bereits fertig verhandelte Abkommen Ceta mit den Europäern nochmals nachzubessern. Damit beauftragte er seine junge Handelsministerin, die freihandelskritische Chrystia Freeland. Sie kam dabei den Europäern weit entgegen. Das im Juli fertiggestellte neue Ceta-Abkommen ist daher auch Trudeaus Kind, ein Versuch, die Vorzüge des Freihandels für alle nutzbar zu machen.

Kanada, der Fläche nach das zweitgrößte Land der Erde, ist sehr stark vom Außenhandel abhängig. Exporte und Importe zusammen machten im vergangenen Jahr 65,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus; die Zahl gilt als Maßstab für die Offenheit einer Volkswirtschaft. Im Vergleich dazu machte der Außenhandel in den USA nur 28,1 Prozent des BIP aus. Das bedeutet, dass sich Amerika eine Zeit lang eine protektionistische Politik leisten könnte, Kanada dagegen nicht. Ceta spielte in der kanadischen Öffentlichkeit auch eine viel größere Rolle als das Parallelabkommen TTIP mit den USA dort. Die Offenheit hat Kanada Wohlstand gebracht, hat es aber auch verstärkt Schocks von außen ausgesetzt, wie zuletzt in der Finanzkrise.

Dazu kommt, dass Kanada wirtschafts- und sozialpolitisch Europa nähersteht als die USA, besonders dann, wenn das Land wie derzeit von der Liberalen Partei regiert wird. Diese ist mit einer europäischen sozialdemokratischen Partei vergleichbar.

Der europäisch-kanadische Handel ist durchaus noch ausbaufähig, darauf hoffen die Kanadier. In Deutschland liegt das Land derzeit unter den Empfängern deutscher Exporte an 25. Stelle, unter den Importeuren sogar nur an 37. Stelle, nach Mexiko und vor Indonesien. Betrachtet man die ganze EU, dann wird das Ungleichgewicht noch deutlicher. Die EU ist der zweitwichtigste Handelspartner Kanadas vor den USA, umgekehrt belegt Kanada in der EU nur Rang zwölf.

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