Kampf um Aleppo:Wenn die Steine weinen

Hier soll die Entscheidung im Kampf um Syrien fallen: Rebellen und Regierungsarmee kämpfen erbittert um Aleppo. Die wirtschaftlich und geografisch bedeutende Stadt ist eine der schönsten und ältesten Städte der Erde - und nun von der Zerstörung bedroht.

Rudolph Chimelli

Auch Shakespeare hatte vom Ruhm Aleppos gehört. Er schickt in seinem "Macbeth" das Schiff Tiger aus, das nach 567 Tagen, von Hexen geplagt, erfolglos von der Reise heimkehrt: Die Stadt liegt allerdings - was der Dichter mit seinen notorisch schlechten geografischen Vorstellungen offenbar nicht wusste - 120 Kilometer vom Meer entfernt.

Aleppo

Die Zitadelle von Aleppo: Hier scheiterten sogar die Kreuzritter. Trotzdem wurde die geschichtsträchtige Stadt am Kreuzweg der wichtigsten Handelsrouten immer wieder zerstört und geplündert. Jetzt ist sie wieder in Gefahr.

(Foto: dpa)

Gerade wegen ihrer günstigen Position zwischen der Levante und der Wüste, Anatolien und Arabien hatten sich hier seit der Antike die Karawanenwege gekreuzt. Die Stadt wurde als Stapelplatz und Vermittlerin reich. Aleppo ist eine der am längsten ununterbrochen bewohnten Siedlungen der Erde - und ist nun von der Verwüstung bedroht, denn die Rebellen und die Regierungsarmee des Diktators Baschar al-Assad liefern sich erbitterte Kämpfe um die wirtschaftlich und geografisch bedeutende Stadt.

Zum ersten Mal wird Aleppo im 18. Jahrhundert vor Christus auf Tontafeln erwähnt. Auf einer von ihnen ließ der König Zimrilim von Mari am mittleren Euphrat durch Keilschrift übermitteln, dass er die Prinzessin Schimlu aus Haleb geheiratet hatte. So heißt Aleppo noch heute auf Arabisch.

Nicht nur die Händler, auch die Eroberer nutzten die offene Lage zu allen Zeiten, die Hethiter, der Perser Cyrus, Alexander der Große, die Römer und andere Herrscher in der Antike. Die Araber zogen 637 kampflos ein, als sie dem byzantinischen, dem oströmischen Reich, Palästina, Syrien und Ägypten binnen weniger Jahre entrissen. Sie verloren Aleppo jedoch im 10. Jahrhundert wieder vorübergehend an die Byzantiner, als Nikephoras Phokas, der "bleiche Tod der Sarazenen", die Stadt plündern ließ.

Am schlimmsten hauste der Mongolen-Chan Hulagu, Dschingis-Chans Enkel. Er ließ die schlecht verteidigte Stadt im Jahre 1260 nach kurzer Belagerung zerstören. Die Mongolen erreichten hier aber die Grenze ihrer Macht - nach der Niederlage bei Ain Dschalut gegen die muslimischen Mamelucken 1260 konnten sie die Stadt auf Dauer nicht halten. Der Islam hatte sich behauptet gegen die Bedrohung aus den Steppen Asiens - und die christlichen Kreuzritter, welche den Mongolen geholfen hatten, zahlten bitter dafür. Wenige Jahre später waren ihre letzten Besitzungen im Heiligen Land durch die Rache der Muslime zerstört.

Immer wieder von den Zerstörungen erholt

Ihr historisches Gesicht, für das die Unesco sie 1986 zum Weltkulturerbe machte, erhielt die Altstadt nach der Eroberung Aleppos durch den Osmanen-Sultan Selim I. im Jahre 1516. Die Türken-Herrschaft endete erst 400 Jahre später während der Schlussphase des Ersten Weltkriegs im Oktober 1918 durch den Vormarsch der Briten unter Marschall Edmund Allenby (genannt "Bloody Bull"). Als seine Truppen sich näherten, erreichte der arabische Volksaufstand die Straßen Aleppos.

Der spätere Mustafa Kemal Atatürk, zu jener Zeit Kommandeur der zurückflutenden 7. Osmanischen Armee, hatte sein Hauptquartier im Hotel Baron aufgeschlagen, damals und noch lange danach das erste Haus am Platz. Er hörte den Lärm, trat auf die Terrasse, in penibel korrekter Uniform, eine Zigarette zwischen den Lippen, um zu sehen, was los war. Dann eilte er in die Halle und trieb die eindringende Menge, die sich seiner bemächtigen wollte, mit der Reitpeitsche wieder hinaus. Für einen winzigen Moment folgten die Wütenden einem letzten Reflex des Respekts vor der angestammten Autorität. Kurze Zeit danach allerdings proklamierte der Emir Feisal aus dem Hedschas vom Balkon des Zimmers 215 eben dieses Hotels sein erträumtes Groß-Arabisches Königreich.

Er hatte den Versprechungen des britischen Agenten Lawrence von Arabien geglaubt und zusammen mit ihm den Aufstand der Araber gegen die Türken angeführt. Doch London hatte Syrien und Libanon bereits insgeheim Paris versprochen. Feisal wurde abgeschoben, erhielt später Irak als Trostpreis, und Syrien wurde französisches Mandat. Erst am Ende des Zweiten Weltkriegs gingen die Franzosen wieder.

Syrien wurde unabhängig, aber die Aleppiner waren enttäuscht, dass nicht ihre Stadt Kapitale wurde, sondern die Rivalin Damaskus. Von allen Zerstörungen hat sich Aleppo immer wieder erholt, auch von den Verwüstungen durch mehrere schwere Erdbeben im Lauf der Jahrhunderte, dessen letztes 1822 zwei Drittel der Häuser in Trümmer legte.

Die gegenwärtigen Kämpfe zwischen den Truppen von Präsident Baschar al-Assad und den Rebellen spielen sich überwiegend in den neueren Bezirken ab. Die täglichen Fernsehbilder der Rauchsäulen, Ruinen und ausgebrannten Autos stammen von dort. Nach den bruchstückartigen Berichten hat der historische Kern bisher kaum gelitten. Assads Soldaten sollen Anweisung haben, Monumente zu schonen.

Das mindert freilich die Leiden der Bewohner nicht. Die Stadt-Bourgeoisie von Aleppo hatte sich dem Aufstand, der die wirtschaftliche Grundlage ihrer Prosperität in eineinhalb Jahren Bürgerkrieg aushöhlte, lange ferngehalten. Erst relativ spät wurde die Rebellion von außen in die Stadt getragen. Ohnehin kann ihre kulturelle Substanz erst wieder Gewinn tragen, wenn irgendwann in der Zukunft der Tourismus, der sich in den letzten Jahren gewaltig entwickelt hatte, neu erblühen sollte.

Das angestaubte Hotel Baron, das seit seiner Gründung Anfang des letzten Jahrhunderts noch immer der armenischen Familie Mazloumian gehört, wurde aufgemöbelt. Internationale Hotelketten eröffneten Häuser. Im christlichen Viertel Dschdeide wurden aus noblen Patrizierhäusern Designer-Hotels. Es war in den Jahren vor Ausbruch der Rebellion nicht mehr einfach, in Aleppo ein Zimmer zu bekommen. Immer war die alte Handelsmetropole offen für Fremde aus Europa und für orientalische Christen. Die "Frengi (Franken)" fühlten sich hier wohler als im strenger islamischen Damaskus. Die einheimischen Christen machen 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung aus.

Kontrast zwischen Weltoffenheit und altorientalischer Innenstadt

Schon 1548 eröffneten die Venezianer als Erste ihr Konsulat, die Franzosen folgten 1562, die Engländer 1583. Eine erste ausführliche Beschreibung der Stadt verfasste im 18. Jahrhundert der englische Konsulatsarzt Alexander Russell. Ende des 18. Jahrhunderts zeichnete der französische Konsul Rousseau den ersten Stadtplan. Konsul der Sowjetunion war bis zu deren Zusammenbruch immer ein Armenier, der die Beziehungen zu den zum Teil seit Jahrhunderten ansässigen armenischen Familien pflegte und um Rückwanderer warb.

Nebenbei: Der erste Präsident des unabhängigen Armenien nach dem Fall der UdSSR, Lewon Ter Petrossian, wurde in Aleppo geboren. Russland, Armenien und die Türkei unterhalten heute Generalkonsulate, Frankreich ein Konsulat, während 18 andere Länder, darunter Deutschland, durch Honorar-Konsuln vertreten sind. Die Würde des Honorar-Konsuls wird vielfach seit Generationen in denselben Familien vererbt, alle orientalische Christen griechisch-katholischer Konfession. Gelegentlich zeigt ihr Name, dass sie italienischer Herkunft sind, Marcopoli, Draghi, Gherardi.

Die Konsular-Familien heiraten untereinander, haben Verwandte in Beirut, Alexandria und Europa. Sie wohnen nicht mehr eingeschlossen in "Funduks (Herbergen)" wie in ihren Anfangszeiten, sondern in Steinhäusern aus dem 19. Jahrhundert mit kühlen Innenhöfen, zwischen venezianischen Spiegeln, falschem Rokoko, echten Antiquitäten und unbezahlbaren Teppichen. Von den Ahnenbildern im Goldrahmen blicken würdige Herren unter rotem Fes.

Sie sind die Letzten einer aussterbenden Klasse, die einst "Levantiner" genannt wurde. Sunniten sind nicht unter ihnen. Für die bäuerlichen Bewohner des Umlandes sind die wendigen Aleppiner "Halebi-Schelebi", was so etwas wie Schlitzohren bedeutet.

Aleppos besonderer Reiz liegt im Kontrast seiner Weltoffenheit und der seit dem 16. Jahrhundert kaum veränderten altorientalischen Innenstadt. Ihre 37 Suks (Basare) sind das Schönste, was es in dieser Art zwischen Istanbul und Isfahan gibt. Wer den gedeckten Basar von der Zitadelle kommend betritt, gerät von selber in den Suk al-Attarin, die Straße der Gewürz- und Dufthändler: bunte Pfefferschoten, Gelbwurz, schwarzer Tee, gelbe Linsen, weißer Reis tragen zur Vielfalt der Farben und Gerüche ebenso bei wie Rosenblätter, Essenzen, Tabak, Parfum.

Liebhaber holen sich hier ihren Aleppo-Pfeffer, der heller und milder ist als die grellroten Sorten. Weiter innen im Suk hämmern und dengeln Handwerker wie eh und je. Seifensieder kochen aus Oliven- und Lorbeeröl ihre gefeierte ökologische, hautschonende Aleppo-Seife. Die Gerber sind längst an den Stadtrand verbannt, nicht so die Metzger. Sie schlachten und schneiden noch so wie in biblischen Zeiten. Ihre Stände schauen aus, als hätte Breughel sie gemalt.

Die Zitadelle ragt hoch über die flache Stadt. Sie steht auf einem 40 Meter hohen Hügel, der wahrscheinlich zum Teil aufgeschüttet wurde. Ihr Kegel ist mit glatten Platten belegt, in einem Neigungswinkel, der das Hinaufsteigen unmöglich macht. Nur selten ist sie erobert worden. Die Kreuzritter schafften es nicht. In der Tiefe rundum alte Moscheen und Kirchen, Koranschulen und Karawansereien, Bäder und Brunnen, Siechenhäuser und Paläste, Mauern und Tore, Naturstein und Marmor.

Kulturhauptstadt des Islam

Genug. Das soll kein Reiseführer werden. Wenn aber die Politik ausgespielt hat, und das Land wieder zugänglich wird, dann ist Aleppo auch erneut das Zugangstor zu den toten Städten Nordsyriens, verlassenen frühchristlichen Siedlungen, die einsam in der grünen Natur liegen. Die bedeutendste ist das St. Simeons-Kloster. Es wurde im fünften Jahrhundert an der Stelle errichtet, an welcher der gegen 390 geborene Mönch Simeon 27 Jahre in Askese auf seiner Säule ausharrte.

Aleppos Küche kennt 26 Sorten von Kebab. Türken und Araber, Perser und Armenier, Italiener und Kaukassier haben zu ihrer Vielfalt beigetragen. Die Stadt lag am Ende der Seidenstraße. Karawanen brachten seit altersher aus Indien und Ostasien nicht nur Edelsteine und Tuche, sondern auch Spezereien. Die Umgebung ist landwirtschaftlich reich. Berühmt sind die Pistazien und Oliven, deren Plantagen die Höhen bedecken. Schon der römische Kaiser Vitellius ließ seine Pistazien aus dieser Gegend nach Rom bringen. Nur für Orangen ist es zu kalt. Frost und Schnee sind nicht selten.

Seit 2006 ist die Stadt, die bei Ausbruch der Unruhen mit ihren Vororten rund 2,5 Millionen Einwohner zählte, auch Kulturhauptstadt des Islam. Und bereits seit 1993 wird die historische Altstadt mit Hilfe der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GTZ restauriert. Dafür stehen aus einem deutsch-syrischen Schuldenerlass-Abkommen zehn Millionen Euro zur Verfügung.

Auch der Aga Khan Trust for Culture und der Arab Fund for Social and Economic Development leisten Finanzbeiträge. Das Restaurierungsprojekt erhielt 2004 einen Preis der Harvard School for Design. Prinz Karim Aga Khan, religiöser Führer und Großunternehmer zugleich, verlieh den jährlichen Architekturpreis seiner Stiftungen im Jahre 2001 in Aleppo. Er kam in den folgenden Jahren wiederholt, um sich von den Fortschritten, vor allem bei der Restaurierung der Zitadelle, zu überzeugen.

Dieses Mal hat der Ruin, welcher Aleppo nun droht, seine Ursache im Herzen der syrischen Politik. Oft aber waren es Geschehnisse oder Entscheidungen in weiter Ferne, die Aleppo trafen. Als im 17. Jahrhundert mit dem Niedergang der Safawiden-Dynastie in Persien die Seidenweberei einschlief, kamen von dort keine Stoffe mehr. Mit der Eröffnung des Suezkanals 1869 verlagerte sich der Asienhandel auf den Seeweg.

Um sich im Zweiten Weltkrieg, der sich bereits abzeichnete, die Neutralität der Türkei zu sichern, traten die Franzosen 1939 die Nordwestecke Syriens an Ankara ab, und Aleppo verlor den nahen Hafen Iskenderun. Einmal wurden die Stadt und ihr Umland für kurze Zeit selbständig. Der französische General Henri Gouraud schuf als Gouverneur der Kolonialmacht im September 1920 einen eigenen Staat Aleppo. Er sollte mit seinem größeren Potenzial Damaskus schwächen.

Drei Jahre lang hatte Aleppo damals eine eigene Fahne. Auf weißem Grund zeigte sie links oben eine kleine blau-weiß-rote Trikolore, daneben drei Sterne. Sie sind jetzt wieder im Banner der Revolutionäre aufgetaucht.

Weiterführende Information: Die Stadt im 18. Jahrhundert

1756 schrieb der britische Forscher Alexander Russell eine "Naturgeschichte" Aleppos und seiner Umgebung; darin schildert er anschaulich Pracht und Schönheit der alten Stadt:

Eine Mauer umgibt die Stadt, sehr alt, aber nicht einmal das kleinste Stückchen ist verfallen; unterhalb der Wälle, wo einst der tiefe Graben war, liegen heute schöne Gärten. Die Mauer umfasst dreieinhalb Meilen, rechnet man die Vorstädte dazu, ist der Umfang Aleppos sieben Meilen. Zahlreiche Moscheen stehen in Aleppo, und einige von ihnen sind herrlich anzusehen. Vor jeder erstreckt sich ein großer Platz mit einem Brunnen, an dem die Gläubigen die vorgeschriebenen Waschungen vornehmen. Hinter den größeren Moscheen liegen Gärten. Neben den weiten Plätzen finden wir die Karawansereien, jede mit einem großzügig bemessenen Innenhof, den die Warenmagazine, Räume für Gäste und kleine Läden umgeben. Im ersten Stock laufen Säulengänge entlang, hier gelangt man zu den kleinen Zimmern, in denen die Händler, Reisenden und anderen Besucher Unterkunft finden.

Die Straßen sind meist sehr eng, aber wohl gepflastert und bemerkenswert sauber und gepflegt. (. . .) Die Stadt wird mit sehr reinem Wasser versorgt, es stammt aus den Quellen nahe der Ufer des Flusses Heylan, ungefähr fünf Meilen nordöstlich Aleppos, und wird über ein Aquädukt dorthin geleitet, in der Stadt selbst erreicht es die jeweiligen Viertel durch ein System irdener Wasserrohre. Zusätzlich besitzen die meisten Häuser einen eigenen Brunnen, aber das Wasser ist trübe und wird nur zum Waschen und zum Reinigen der Höfe benutzt.

In den besseren Häusern gibt es schöne, schattige Höfe, säuberlich mit Stein belegt und mit einem Bassin in der Mitte. An den Seiten ist sogar Platz für eine Art winzigem Garten, dessen Düfte zusammen mit denen der Topfpflanzen und dem Plätschern der Fontäne sehr verlockend sind für jeden, der durch die Stadt geht. Aber die Tore zu den Straßen sind doppelt gebaut und stets verschlossen, sie erlauben keinen Blick hinein, und sogar die Häuser haben kaum Fenster zur Straße hin."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: