Kalter Krieg:So floh eine Schulklasse aus der DDR

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Zwölf von 16: Nach der geglückten Flucht 1956 berichten die West-Berliner Medien in großer Aufmachung über die Oberschulklasse aus Storkow, die sich in einem Notaufnahmelager wiedertrifft. Zweiter von rechts: Dieter Portner. (Foto: Ullstein Bild)

Brandenburg 1956: Aus Protest gegen die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands schweigen Oberschüler in Storkow für fünf Minuten - Beginn einer filmreifen Geschichte.

Von Sebastian Fischer

Er weiß von jenem Tag noch, dass er fror und sich fürchtete. Dieter Portner legt die Stirn in Falten und lehnt sich zurück in seinem Wohnzimmerstuhl. Er kramt in seinem Gedächtnis nach den Erinnerungen an den 13. Dezember 1956, einen Donnerstag, bis er sie wieder vor sich sieht, die zwei schwarzen Limousinen, die in der Einfahrt vor dem Schulhof parkten, sowjetische Fabrikate, wie sie in der DDR nur Parteifunktionäre fuhren. Zwei Männer mit Ledermantel und Hut standen davor. Der 77-Jährige erinnert sich, wie kurz darauf ein Mann ins Klassenzimmer trat, der sich als Volksbildungsminister Fritz Lange vorstellte, grimmig schaute, schrie.

Da ahnte Portner zum ersten Mal, dass er und seine Klassenkameraden in Schwierigkeiten geraten könnten; dass ihre Geschichte größer werden würde, als sie zu glauben gewagt hatten. Eine Geschichte, von der er glaubte, dass sie vergessen wird. Eine Geschichte, die nun, 60 Jahre später, ins Kino kommen soll.

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Sie begann am 29. Oktober 1956 mit der Nachricht von mehr als hundert Toten. Portner, damals 17, und seine Mitschüler aus der 12. Klasse der Oberschule Storkow in Brandenburg hatten im verbotenen westlichen Radiosender Rias gehört, wie die sowjetische Besatzungsmacht in Ungarn den Volksaufstand bekämpfte und zur Solidarität mit den Freiheitskämpfern aufgerufen wurde.

Sie wollten protestieren, "aber wir konnten ja nicht auf die Straße gehen", sagt Portner. Die Schüler, fünf Mädchen und fünfzehn Jungen, entschlossen sich zu schweigen, für fünf Minuten zu Beginn der Geschichtsstunde. Sie schauten stumm auf die Uhr neben der Tafel, als ihr Lehrer die Hausaufgaben abfragte.

Was heute naiv klingt, war damals Grund genug für die Stasi, Ermittlungen einzuleiten. Während die Schüler in den folgenden Tagen im Rias hörten, wie die Revolution in Ungarn zunächst anerkannt wurde, der Einmarsch sowjetischer Truppen kurz darauf den Widerstand brach und Tausende Ungarn starben, setzte ein Oberfeldwebel in Frankfurt an der Oder ein Schreiben auf.

"Archaische Rebellion"

Darin teilte er der Bezirksleitung der Einheitspartei SED mit: Die Klasse habe "5 gedenkminuten für die gefallenen 'freiheitskämpfer' der konterrevolution in ungarn" eingelegt, so zitiert Dieter Portners Mitschüler Dietrich Garstka aus Stasi-Akten für sein 2006 veröffentlichtes Buch "Das schweigende Klassenzimmer". Es dient nun als Filmvorlage.

Lars Kraume, der Regisseur, sucht noch nach Motiven für den Film, bevor im Februar die Dreharbeiten beginnen. Kraume, gerade für den Politthriller "Der Staat gegen Fritz Bauer" mit dem Deutschen Filmpreis für die beste Regie geehrt, war an den Originalschauplätzen in Storkow, einem kleinen Ort 50 Kilometer vor der polnischen Grenze.

Drehen will er im benachbarten Eisenhüttenstadt, wo die DDR-Architektur der frühen Jahre noch besser erhalten ist. Einen alten Kindergarten wollen sie zur Oberschule ummodellieren. Was dort im Winter 1956 geschah, nennt Kraume eine "archaische Rebellion".

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Der Volksbildungsminister Fritz Lange, ein wuchtiger Mann, dessen Doppelkinn und dicker Hals seinen Krawattenknoten spannten, wollte einen Schuldigen ausmachen, als er im Dezember 1956 die Klasse besuchte, über die eine Mitteilung in seinem Büro eingegangen war. Wer die Aktion angestiftet habe, das habe er immer wieder gefragt, sagt Dieter Portner.

Für den Minister wäre es wohl die einfachste Lösung des Problems gewesen, einen einzelnen Schüler von der Schule zu verweisen. Doch die Klasse schwieg. "Mit unserem Zusammenhalt hat er nicht gerechnet", sagt Portner, er sagt es stolz. Es ist dieser Zusammenhalt, der ihn auch heute noch am meisten beeindruckt.

Der Minister drohte, stellte den Schülern ein Ultimatum. Am 21. Dezember ordnete er an, die Klasse aufzulösen und vom Abitur in der DDR auszuschließen. Dietrich Garstka, der Buchautor, war bereits zwei Tage vorher nach West-Berlin geflohen. Die Übrigen trafen sich am 23. Dezember auf dem Sportplatz in Storkow am Rande eines Fußballspiels. Getarnt im Publikum verabredeten sie den einzigen Plan, der ihnen blieb: die Flucht. Alle, außer vier Mädchen, die bei ihren Müttern im Osten bleiben wollten, waren dabei.

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Portner feierte noch mit seiner Mutter und seiner Schwester Weihnachten, am 26. Dezember ging er zum Bahnhof, stieg in den Zug nach Königs Wusterhausen, und stieg dort in die S-Bahn nach Westberlin.

Die Geschichte der 12. Klasse aus Storkow erzählt viel über die Frühphase der DDR. 1956, drei Jahre nach dem blutig niedergeschlagenen antistalinistischen Aufstand des 17. Juni, wurde das Pass-Gesetz erstmals verschärft. Seit der Gründung 1949 hatten weit mehr als eine Million Menschen das Land in Richtung Westen verlassen. Zwar wurde die sogenannte Republikflucht fortan kriminalisiert, sie war aber weiterhin möglich. Als 1961 die Mauer gebaut wurde, waren etwa drei Millionen Menschen geflohen.

Wenn Portner von der Allgegenwart des Staates erzählt, vom Druck und von der Angst, beobachtet und verraten zu werden und seine Meinung nicht äußern zu dürfen, beugt er sich nach vorne über den Wohnzimmertisch und legt sein Kinn auf die Brust. Klein und machtlos habe er sich gefühlt.

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Fast eine Stunde hat er in seinem Haus in Starnberg bei München schon erzählt, als er an der Stelle ankommt, an der er seine Klassenkameraden am Treffpunkt in West-Berlin traf, bei einem Onkel eines Mitschülers. Der Film, sagt Regisseur Kraume, soll hier enden: als das neue Leben der Republikflüchtlinge begann.

Portner, Sohn einer Haushaltslehrerin und eines Flugzeugmotorenbauers, der wegen seiner NSDAP-Vergangenheit in einem DDR-Gefängnis starb, wollte Journalist werden. Die Medien, sagt er, hätten sich auf sie gestürzt, die Bild-Zeitung berichtete in großen Schlagzeilen, die Zeitschrift Re vue titelte: "Die Abiturienten von Storkow wählten die Freiheit: Keiner verriet den anderen."

Symbol westlicher Überlegenheit

Doch noch war ihnen die Freiheit nicht sicher. Im Schlafsaal des Notaufnahmelager in Berlin-Zehlendorf, so erzählt es Portner, habe aus Angst vor einer Entführung stets einer der Jungen die Türklinke mit einer Kordel mit seinem Fuß verbunden. Portner erhielt einen Brief von seiner Mutter, in dem sie ihn bat, zurückzukommen. Die Stasi hatte sie dazu gedrängt. Doch sie sei ihrem Brief hinterhergereist, habe ihn besucht und gesagt: "Junge, bleib bloß da."

Ein paar Tage später, am 8. Januar 1957, landete ein Flug mit 16 Oberschülern aus Storkow in Frankfurt; in Hessen bestanden sie 1958 ihr Abitur, zu dem ihnen der westdeutsche Außenminister Heinrich von Brentano gratulierte. Die Klasse, die in der DDR geächtet wurde, war im Westen zum Symbol der Überlegenheit geworden.

Dieter Portner ging zur Bundeswehr, heiratete, studierte Psychologie, wurde Vater, Großvater und Urgroßvater, hörte westliche Schlager. Beim jüngsten Klassentreffen im Sommer in Brandenburg waren nur noch fünf der alten Mitschüler dabei. Ihre Geschichte, sagt Portner am Ende, habe er lange nicht mehr erzählt. Er glaubt, dass sie irgendwann vergessen sein wird: weil es inzwischen genügend neue Geschichten über Freiheit gibt.

© SZ vom 17.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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