Kaiserreich:Deutsche Kolonien - Wahrheiten eines Wahngebildes

Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika

Sieben Herren und ein Helfer: Zeitgenössische Darstellung Angehöriger der von 1891 bis 1918 bestehenden Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Bismarck sprach vom "Kolonialschwindel": Ein neuer Sammelband beleuchtet die deutsche Kolonialgeschichte differenziert - bis hin zu den Verbrechen.

Rezension von Cornelius Wüllenkemper

War der deutsche Kolonialismus ein von systemischem Rassismus geprägter Überfall auf Länder in Übersee? Spielte das Profitstreben einzelner Unternehmer die ausschlaggebende Rolle, ging es um politisches Machtkalkül, oder glaubte man wirklich an eine "zivilisatorische Mission"?

In ihrer Aufsatzsammlung über die deutschen Kolonien zeigen die Historiker Horst Gründer und Hermann Hiery, dass das koloniale Abenteuer, von dem sich der populäre Theologe Friedrich Fabri 1879 "Massenauswanderung als Folge der wachsenden Bevölkerung", Zugang zu Rohstoffen und eine offensive "deutsche Kulturmission" versprach, auf große politische Widerstände traf.

Während Kaiser Wilhelm über das "Wahngebilde eines afrikanischen Kolonialreichs" schimpfte, waren es private Handelsfirmen und nationalistische Agitationsvereine, die von der Regierung den Ausbau der Reichsflotte für die Erschließung eines deutschen Kolonialreichs forderten. Wieso aber billigte Reichskanzler Bismarck den von ihm offen verhassten "Kolonialschwindel" schließlich doch?

Winfried Baumgart präsentiert im Abschnitt über den "langen Weg zum Kolonialreich" eine neue Antwort auf diese alte Frage. Anhand eindeutiger Quellen zeigt er, dass Bismarck vor allem einen potenziellen Grund für Streitigkeiten mit England suchte, um den wachsenden Einfluss einer parlamentarischen Demokratie nach englischem Vorbild einzudämmen und so den "Untergang des Deutschen Reichs" abzuwenden.

Das eigentliche Desinteresse des Reichskanzlers am Kolonialismus zeigte sich später unter anderem in der Tatsache, dass er die Verwaltung der Überseeterritorien zunächst privaten Handelsgesellschaften überließ, denen man nur pro forma den "Schutz" des Kaiserreichs versicherte und ihnen - oft zum Leidwesen der einheimischen Bevölkerung - sonst freie Hand ließ. Erst 1907 wurde in Berlin ein zentrales "Reichskolonialamt" geschaffen, das die chaotischen Zustände innerhalb der Kolonialverwaltung beenden sollte.

Die geografischen und zeitlichen Unterschiede der kolonialen Realität in Handels-, Plantagen- und Siedlungskolonien mit direkter Territorialherrschaft, indirekten Herrschaft oder bloßer Residentur macht das Kapitel "Über das deutsche Kolonialreich" deutlich.

In der Pachtkolonie Tsingtau in China und in der Südsee etwa errichtete man Handelsstützpunkte, die allein aufgrund der enormen Entfernung kaum auf Unterstützung aus der Heimat rechnen konnten und, so bemerkt Hermann Hiery spitz, "Hochstapler, Deserteure aller Art ... und Psychopathen" anzog. In sogenannten "Schutzverträgen" versicherte man lokalen Potentaten als Gegenleistung für die Inbesitznahme des Landes nicht selten die Verteidigung gegen innere und äußere Feinde, wobei die deutschen Siedler in den meisten Fällen keineswegs über die dafür notwendigen militärischen Mittel verfügten.

Im Abschnitt über den "Kolonialismus im Alltag" legen die Autoren gut nachvollziehbar dar, inwiefern sich Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Rolle und Präsenz der Militärs, das Missionierungsbestreben und die koloniale Gewalt zum Teil eklatant unterschieden.

Leider kommt kein einziger afrikanischer Historiker zu Wort

Winfried Speitkamp zeigt in seinem Text über "Die deutschen Kolonien in Afrika", wie eine in hohem Maße inkompetente Kolonialverwaltung, offener Betrug und eine ausbeuterische Steuerpolitik in die Aufstände und schließlich blutigen Kolonialkriege in Ost- und Westafrika mündeten und führt damit einmal mehr die Pflicht zu einer umfänglichen Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen vor Augen.

Was die Kriege zwischen Einheimischen und Kolonialherren, aber auch die Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen innerhalb der kolonisierten Gebiete angeht, hinterfragt er den Antagonismus zwischen Kolonisierern und Kolonisierten, denn nicht selten arbeitete die Kolonialmacht auch mit einheimischen Kriegern zusammen.

Speitkamps Behauptung, die Kooperation des deutschen Residenten Richard Kandt mit der Volksgruppe der Tutsi in Ruanda habe deren Herrschaftsanspruch untermauert und somit letztlich den Völkermord von 1994 befördert, zeigt ex negativo den bestehenden Forschungsbedarf.

Nach Auffassung ruandischer Historiker passte sich Kandt vielmehr an das seit Jahrhunderten bestehende Herrschaftsgefälle zwischen Tutsi und Hutu an, während sich erst nach Einmarsch der Belgier 1916 das vor allem auf den Besitzstand aufbauende soziale Machtgefüge per Passstempel in ein System der pseudo-ethnischen Segregation wandelte.

Cover

Horst Gründer, Hermann Hiery (Hg.): Die Deutschen und ihre Kolonien. Ein Überblick. be.bra Verlag, Berlin 2017, 352 Seiten. 24 Euro.

Bemerkenswert ist an dieser ansonsten ausgewogenen Aufsatzsammlung, dass nicht ein einziger afrikanischer Historiker zu Wort kommt, obwohl doch gerade im wissenschaftlichen Dialog die große Chance der gegenwärtigen Aufarbeitungsdebatte liegt.

In seinem Aufsatz über das "schwierige Erinnern" schreibt Joachim Zeller einerseits von der schleppenden Anerkennung der Kolonialverbrechen in Deutschland seitens der Bundesregierung aber auch im kollektiven Bewusstsein. Andererseits erwähnt er die "europäische Verantwortung" für "das koloniale Projekt" und lässt damit ungesagt, dass es den einen europäischen Kolonialismus eben nicht gab. Seine Kritik am "protzigen Unabhängigkeitsmuseum" im heutigen Namibia, das "die Geschichte zur Magd der Politik degradiert", wirft dagegen die Frage auf, welche Rolle Europa heute in der afrikanischen Aufarbeitung zu spielen hat.

Das zeigt aktuell auch die Auseinandersetzung über die Frage nach möglichen Formen der Wiedergutmachung angesichts des Völkermordes, den Lothar von Trotha in Namibia befehligte. Es sind gerade diese diskussionswürdigen Perspektiven, die die Differenzierung in der historiografischen Aufarbeitung der verschiedenen Kolonialismen vor Augen führen. Dieses Buch gibt dazu einen wertvollen Anstoß.

Cornelius Wüllenkemper ist Journalist mit den Themenschwerpunkten Geschichte und Kultur.

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