Kaiser Wilhelms Deutsche:Es war doch ein Volk der Ideen

Krieg? "Je eher, desto besser": Wie sich die wilhelminischen Eliten radikalisierten - ein neues Buch beschreibt es.

Siegfried Weichlein

Seit es die Geschichtswissenschaft gibt, werden ihre Methoden diskutiert, erneuert sich das begriffliche Inventar des Faches. Zur Zeit wird die Nationalismusforschung umgeräumt. Nationalismus ist nicht nur das Ergebnis der Nationalisierung einer Gesellschaft, sondern auch von Transfer und Emulation, von Wettbewerb und Adaption zwischen verschiedenen Gesellschaften.

Kaiser Wilhelms Deutsche: Prägte eine ganze Ära: Kaiser Wilhelm II., der von 1888 bis 1918 herrschte.

Prägte eine ganze Ära: Kaiser Wilhelm II., der von 1888 bis 1918 herrschte.

(Foto: Bild: Das Gupta)

Der Wohlfahrtsstaat wurde rechts und links des Rheins nicht unabhängig voneinander, sondern in wechselseitiger Beobachtung und Austausch erfunden. Nationale Geschichte aus ihren inneren Ursachen heraus zu erklären, wie dies die Nationalgeschichtsschreibung lange Zeit tat, wird also nicht mehr hinreichen. Die transnationale Geschichte scheint vielmehr der nationalen eingeschrieben zu sein.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Bielefelder Dissertation von Peter Walkenhorst ihre Bedeutung. Angeleitet von Hans-Ulrich Wehler und dessen schneidender Kritik an dem "Modewort transnational" unternimmt es der Autor, den radikalen Nationalismus der wilhelminischen Ära aus nationalen und nicht aus transnationalen Faktoren zu erklären.

Die Studie fasst in weiten Teilen bisherige Befunde zum Radikalnationalismus zusammen, die durch Archivfunde auf Reichsebene ergänzt werden. Insgesamt ergibt sich eine doppelte Perspektive auf den radikalen Nationalismus vor 1914. Walkenhorst interessiert sich für Konflikt und Konsens zwischen den nationalistischen Massenorganisationen und der Reichsregierung.

Antisemitismus als implizite Verbandspolitik

Er schließt sich weder der Manipulationsthese an, nach der die Reichsregierung den Nationalismus als antisozialistisches Vademekum und Integrationsinstrument eingesetzt hat, noch folgt er der These Geoff Eleys, der im Nationalismus nach 1900 vor allem eine Kritik von unten an der Reichsregierung sieht.

Statt dessen betont der Autor den Einfluss, den die Radikalnationalisten auf die Regierungspolitik ausübten, die sie immer stärker vor sich her trieben und die sich ihre wesentlichen Forderungen, etwa in der Staatsbürgerschaftsfrage, zu eigen machte.

Die Studie belegt eindrucksvoll die Radikalisierung des deutschen Nationalismus, der im Äußeren immer weiter ausgriff und im Innern immer schärfer ausgrenzte. Ausgangs- und Endpunkt der Studie werden markiert von nationalistischen Politikern wie Heinrich von Treitschke und dem Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß, dessen Antisemitismus zur impliziten Verbandspolitik wurde, auch wenn es ihm vor 1914 nicht gelang, sie explizit in den Verbandsstatuten festzuschreiben.

Votum für die Eskalation

An jeder politischen Weggabelung votierten die Radikalnationalisten für Verschärfung und Eskalation. Ein besonders instruktives Beispiel hierfür bildeten die beiden Marokkokrisen 1905 und 1911, die zu Höhepunkten der Agitation des Alldeutschen Verbandes, des Flottenvereins und des Wehrvereins wurden.

Die Radikalisierung der nationalistischen Massenverbände ist jedoch noch nicht schon diejenige des Kaiserreiches oder gar der gesamten deutschen Gesellschaft. In dieses Bild gehörten Gegenkräfte und der Wechsel der Gemengelagen in den Kirchen und den Parteien hinein. Nicht die Radikalisierung der Nationalen würde die Herausforderung darstellen, sondern die Mobilisierung der vordem Unbeteiligten.

Es war doch ein Volk der Ideen

Wo aber lag die treibende Kraft hinter der mit vollem Wissen um ihre Folgen vorangetriebenen Radikalisierung des deutschen Nationalismus nach 1890? Hier bietet Walkenhorst in erster Linie ideologische Ursachen an. Auf das Ordnungsmodell des politisch gebundenen Staatsvolks folgte die Karriere eines kulturell-ethnisch verstandenen Volkskörpers, darauf schließlich die "Volksgemeinschaft", die ihrerseits den Staat in Dienst zu nehmen und für ihre Expansions- und Umverteilungszwecke einzuspannen versuchte.

Nach 1871 lag die emanzipatorische und inkludierende Komponente des Nationalismus in der Befreiung aus kleinstaatlicher Enge, in der Ausweitung des Wahlrechts und in der partizipationsoffenen Umgestaltung des politischen Systems. Nach 1900 herrschte der Eindruck vor, dass die Exklusion Fremder ihrerseits schon ein Stück Inklusion darstellte.

Bei den militärischen Eliten und den organisierten Nationalisten kam die Idée fixe der Einkreisung Deutschlands hinzu. Die Vorstellungen des "Volkes ohne Raum" und des "Lebensraumes" (Friedrich Ratzel) wirkten in die gleiche Richtung wie die Homogenitätsobsessionen. Kriegsrelevant war das alles, weil der Krieg als unvermeidliches Schicksal für jede Generation galt.

Wenn aber der Krieg unvermeidlich war, dann lag die Schlussfolgerung auf der Hand: "Je eher desto besser", wollte man den wirtschaftlichen Vorsprung des Reiches noch nutzen. Die ideellen Muster verstärkten sich wechselseitig und führten in die radikalnationalistische Kriegseuphorie. Die These der "kumulativen Radikalisierung" übernimmt der Autor aus Hans Mommsens Analyse des Holocaust.

Freilich: Die Ideologie ist noch nicht die politisch-soziale Wirklichkeit. Zurecht fragt Walkenhorst daher abschließend nach der sozialen Reichweite der radikalen Ideen. Sie blieben auf den Kreis der wichtigsten Funktionsträger und Deutungseliten beschränkt. Selbst innerhalb des Alldeutschen Verbandes fanden sich für sie keine dauerhaften Mehrheiten. Man zögerte, den intern selbstverständlichen Antisemitismus an die Öffentlichkeit zu tragen.

Der Autor verspricht eine moderne Ideengeschichte der mentalen Raster und Diskursmuster. In der Durchführung dieses Programms bleibt er jedoch konventionell. Handelte es sich bei dem Radikalnationalismus um eine Idee oder kam er aus einem bestimmten Interesse heraus?

Oder erzeugten die Ideen "Volk", "Nation", "Rasse" und "Volksgemeinschaft" neue Interessen wie den Wunsch nach Weltgeltung? Für die Eliten, deren Radikalisierung dieses Buch beschreibt, trifft dies sicher zu. Für die Gesellschaft wird es eher suggeriert als bewiesen. Am Ende ist Walkenhorsts faktenreiches und gut geschriebenes Buch eben doch Teil einer Nationalgeschichtsschreibung. Deren Historiker sind nationaler als ihr Gegenstand.

PETER WALKENHORST: Nation - Volk - Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 400 Seiten, 49,90 Euro.

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