Justiz:"Vor eineinhalb Jahren war er ein höflicher, feingeistiger Mensch"

Justiz: In der JVA Stadelheim sitzt ein Mitglied der türkischen Kommunistischen Partei TKP/ML ein. Ihm wird wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung der Prozess gemacht.

In der JVA Stadelheim sitzt ein Mitglied der türkischen Kommunistischen Partei TKP/ML ein. Ihm wird wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung der Prozess gemacht.

(Foto: Claus Schunk)

Seither hat sich der Zustand eines türkischen Folteropfers in deutscher Haft massiv verschlechtert. Alle wissen, dass der Mann im Gefängnis zugrunde gehen wird. Doch die Justiz führt ein Pilotverfahren.

Von Annette Ramelsberger

Anfangs ist der Kleine voller Freude auf seinen Vater zugerannt, jetzt will er nicht mehr. Er versteht nicht, warum der Vater gleich wieder weggeht, wo sie doch gerade erst zu spielen begonnen haben. Und warum er dann mit Mutter und Schwester hinter einer raumhohen Glasscheibe sitzen muss und seinen Vater nur von Weitem sehen kann. Berühren verboten. Schmusen verboten. So verwirrt ist das Kind, dass es nun gar nicht mehr zu seinem Vater will. Der Vater weiß nicht, ob er sich wünschen soll, dass das Kind ihn überhaupt besucht. Weil der Kleine ihm so leid tut. Weil er ja denken muss, der Vater wolle ihn nicht mehr sehen. Das Kind ist vier.

Der Vater ist der Untersuchungsgefangene Mehmet Yesilcali, 53 Jahre alt, türkischer Staatsbürger. Seit eineinhalb Jahren untergebracht in der JVA Stadelheim in München. Schlank, grauhaarig, kein leichter Gefangener. Mal schreit er laut, wenn ihn die Angst überkommt, mal tritt er gegen die Zellentür, mal ist er depressiv. "Man merkt, dass dieser Mann unter Strom steht", sagt Michael Stumpf, der Leiter der JVA. Im Gerichtssaal zuckt beständig Yesilcalis linkes Auge. Ein Sanitäter hat sich in Sichtweite gesetzt.

Protest, Folter, Inhaftierung

Yesilcali trägt eine Last mit sich herum. Er ist Kommunist, er hat immer wieder gegen den türkischen Staat protestiert. Mindestens viermal wurde der Mann von 1980 bis zum Jahr 2003 in der Türkei schwer gefoltert. Einmal über drei Monate hinweg in einem Lager , später bei willkürlichen Verhaftungen. Während einer siebenjährigen Haftstrafe hat sich Yesilcali zum politischen Aktivisten entwickelt. Er trat in den Hungerstreik, elf seiner Mithäftlinge hungerten sich zu Tode. Die Schweiz hat seine politische Verfolgung anerkannt und ihm 2010 Asyl gewährt. Sein Leben begann noch einmal von vorn, so dachte er. Seine Frau und die Tochter zogen zu ihm, sie bekamen noch einmal ein Kind. Alles schien gut zu werden. Dann wurde er am 15. April 2015 in Haft genommen und später nach Deutschland ausgeliefert.

In dieser Geschichte könnte man an vielem verzweifeln: Daran, welche Prioritäten deutsche Strafverfolger setzen. Daran, mit was sich überlastete Gerichte unbeirrt beschäftigen. Daran, dass an dieser Akribie eine Familie zugrunde geht.

Vor dem Oberlandesgericht München wird seit eineinhalb Jahren zehn Angeklagten der Prozess gemacht - ein Prozess, der nach Ansicht selbst vieler Ermittler fragwürdig ist. Weil es sich um kleine Fische handelt. Weil die Beweise dünn sind. Weil der Aufwand immens ist.

Mehrmals haben Psychiater gewarnt, der Häftling könnte sich das Leben nehmen

Den Angeklagten wird vorgeworfen, für die kleine türkische Kommunistische Partei TKP/ML Geld gesammelt, Abgesandte zum Parteikongress geschickt und den strategischen Weg der Gruppe mitbestimmt zu haben. Einmal im Jahr haben sie ein Sommercamp für den Nachwuchs organisiert. Im juristischen Sinne: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland. Strafbar nach Paragraf 129 b Strafgesetzbuch. Dafür sitzen die zehn nun in Haft: nicht nur Yesilcali, sondern auch eine Ärztin aus Nürnberg, die selbst Folteropfer behandelt hat. Auch sie unter Hochsicherheitsbedingungen.

Nicht einmal der schwer kranke Yesilcali kommt frei. Immer wieder hat das Oberlandesgericht München den Antrag der Verteidigung abgelehnt, den Mann freizulassen. Immer wieder haben Psychiater ihn begutachtet und erklärt, er könne die Haft gerade noch aushalten, ohne dass die Gefahr des Suizids eintritt - wenn er jede Woche Besuch von seiner Familie bekommt, wenn er jeden Tag zweimal in den Hof darf, wenn er regelmäßig Psychotherapie bekommt.

Doch das geschieht nicht. Die Frau von Mehmet Yesilcali arbeitet in der Nähe von Lausanne bei McDonald's im Schichtdienst, sie ernährt die Familie, die Tochter geht in die Schule, und der kleine Sohn hat Anwesenheitspflicht in der Ecole Maternelle - von Montag bis Freitag. Aber am Wochenende ist keine Besuchszeit in der Haft. Die JVA hat es möglich gemacht, dass die Familie trotzdem am Samstag kommen kann - aber da können die Beamten des Landeskriminalamtes nicht, die an jedem Besuch teilnehmen müssen.

So kommen Mutter, Tochter und Sohn höchstens einmal im Monat die 490 Kilometer gefahren. Dann darf der Vater eine Stunde mit dem Sohn kuscheln. Dann noch einmal eine Stunde lang seine Familie hinter der Trennscheibe sehen. Die Haftanstalt kann daran nichts ändern. Die Trennscheibe hat das Gericht angeordnet - so ist das in Terrorverfahren. "Uns sind da die Hände gebunden", sagt JVA-Leiter Stumpf. Selbst in der Haftanstalt zweifeln manche, ob das sinnvoll ist. Die psychische Situation von Yesilcali hat sich in den vergangenen Monate beständig verschlechtert. "Vor eineinhalb Jahren war er ein respektvoller, höflicher, feingeistiger Mensch", sagt seine Verteidigerin Franziska Nedelmann. "Mittlerweile hat er sich völlig in sich zurückgezogen."

Er leidet, so haben es die Gerichtspsychiater bestätigt, unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, seine Persönlichkeit hat sich verändert, und er ist depressiv. Es bestehe die Tendenz zu einer Chronifizierung und akuten Verschlechterung bis zu einem möglichen Suizid, haben die psychiatrischen Gutachter Claudia Limmer und Norbert Nedopil befunden.

Panikattacken und Angst vor den deutschen Justizbeamten

Wenn uniformierte Justizwachtmeister in seine Zelle kommen, sieht Yesilcali die türkische Polizei reinkommen, so hat er es seiner Therapeutin erzählt. Panikanfälle überfallen ihn, er tritt dann gegen die Zellentür, die Wachtmeister schreien - aber er versteht kein Deutsch. Er wird dann niedergerungen, seine Panik steigt. Und er sieht sich wieder im Folterknast in der Türkei. "Ein Folteropfer unterscheidet sich von anderen, auch schwierigen Gefangenen", sagt JVA-Chef Stumpf. "Manchen Kranken tut es nicht gut, dass sie im Vollzug sind."

Der deutsche Rechtsstaat ist nicht zimperlich, wenn er Menschen vor Gericht stellt. Auf der Anklagebank saßen schon Depressive, an Parkinson Erkrankte wie der Augsburger Polizistenmörder und sogar ein frisch beinamputierter Angeklagter, der in Dachau einen Staatsanwalt erschossen hatte. Der Mann wurde im Krankenbett in den Gerichtssaal geschoben. Bis der Staat Milde walten lässt, muss ein Angeklagter schon halb tot sein. Und bei manchem reicht auch das nicht.

Bisher hat das Gericht alle Haftbeschwerden abgewiesen

Vergangene Woche hat die Psychiaterin vom Behandlungszentrum für Folteropfer Refugio, die Yesilcali seit einem Jahr betreut, die Behandlung abgebrochen. Schon im Frühjahr hatte sie erklärt, lebensbedrohliche Komplikationen würden immer unbeherrschbarer. "Sie will das Risiko eines Suizids nicht mehr auf sich nehmen", sagt Anwältin Nedelmann. Der Gefangene quält sich, dass sich sein Sohn zurückgestoßen fühlt. Er quält sich, dass er seine Frau allein lässt. Die Familie ist sein einziger Lebensinhalt. Selbst JVA-Chef Stumpf sagt: "Der Fall Yesilcali ist einer der Fälle, die einen umtreiben."

Doch bisher hat das Gericht alle Haftbeschwerden abgewiesen. Es hat zwar mit der Bundesanwaltschaft diskutiert, ob ein Deal möglich sei - drei Jahre Haft für Yesilcali, wenn er gesteht. Dann wäre er bald frei. Doch darauf hat sich Yesilcali nicht eingelassen. Offenbar deswegen, weil er damit seinen Mitangeklagten in den Rücken fallen würde.

Dabei ist der Prozess gegen die zehn Angeklagten aus ganz Deutschland und der Schweiz ohnehin umstritten. Laut Verfassungsschutz geht von der Partei TKP/ML seit den Neunzigerjahren keine Gefahr mehr in Europa aus. Doch vor dem OLG München soll das Pilotverfahren klären, ob es sich um eine gefährliche Terrororganisation handelt.

Prozess dauert vermutlich noch ein Jahr

Die Verteidiger von Yesilcali verweisen darauf, dass allmählich der Zeitpunkt gekommen ist, an dem Yesilcali schon die zu erwartende Haftstrafe abgesessen hat. Zudem weisen sie immer wieder auf Beweismaterial hin, das über die türkischen Sicherheitsbehörden kam und zum Teil durch Spionage in Deutschland erworben worden sein könnte. Die Ankläger dagegen betonen, man habe genügend eigene Erkenntnisse, es bestehe nach wie vor dringender Tatverdacht. Es ist ein zäher Grabenkampf entbrannt um Dolmetscher und Dokumente. Mittlerweile wird schon fast 70 Tage verhandelt. Und der Prozess geht weiter, vermutlich noch ein Jahr.

Dass es dem Angeklagten Mehmet Yesicali schlecht geht, ist allen bewusst. Dem Gericht, der Haftanstalt selbst dem Generalbundesanwalt. Aber offenbar noch nicht schlecht genug. "Die Frage einer Haftentlassung stellt sich aus unserer Sicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht", sagt die Sprecherin der Bundesanwaltschaft. Wenn man optimistisch ist, hört man in diesem Satz eine Betonung auf dem Wort "noch" und nicht auf dem Wort "nicht".

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