Justiz:Das Prinzip Verantwortung

Der Bundesgerichtshof bestätigt das Urteil gegen den "Buchhalter von Auschwitz". Erstmals wird also höchstrichterlich festgestellt: Wer in einem KZ organisatorisch am Massenmord beteiligt war, kann wegen Beihilfe verurteilt werden.

Von Robert Probst

47 Jahre liegen zwischen dem ersten und dem zweiten Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) zum "Dienst im Konzentrationslager Auschwitz". Fast fünf Jahrzehnte galt als höchstrichterlich bestätigte Rechtspraxis: Wer in einem KZ oder Vernichtungslager als einfacher Wachmann Dienst tat und wem dabei kein eigenhändiger Mord nachgewiesen werden konnte, der konnte auch nicht wegen Beihilfe zum Massenmord belangt werden. Das hat der 3. Strafsenat am BGH nun korrigiert. Im Fall des "Buchhalters von Auschwitz", Oskar Gröning, wird klargestellt: Wer in Auschwitz als SS-Angehöriger funktionell in den arbeitsteilig organisierten, systematischen Massenmord eingebunden war, hat Beihilfe zum Mord begangen. Auf diesen Tag haben viele Angehörige von Holocaust-Opfern lange gewartet.

Die deutsche Justiz hatte sich bislang am Urteil des BGH vom 20. Februar 1969 orientiert. Damals ging es um die Revision des großen Auschwitz-Prozesses, der von 1963-65 in Frankfurt stattgefunden, und vielen Deutschen die Dimensionen des Menschheitsverbrechens erstmals klar vor Augen geführt hatte. Der zuständige BGH-Senat schrieb, dass sich nicht "jeder, der in das Vernichtungsprogramm des Konzentrationslagers Auschwitz eingegliedert" gewesen und dort "irgendwie anlässlich dieses Programms" tätig geworden sei, "objektiv an den Morden beteiligt" habe "und für alles Geschehene verantwortlich" sei. Im nun veröffentlichten Beschluss vom 20. September 2016 sehen die Richter keinen Widerspruch zu dem Spruch von 1969. Denn dem Angeklagten Gröning werde nicht "alles" zugerechnet, was in Auschwitz geschah, und er sei auch nicht "irgendwie" am Holocaust beteiligt gewesen, sondern er sei ganz konkret "im Rahmen des fest umgrenzten Komplexes der ,Ungarn-Aktion'" tätig gewesen, so wie es das Landgericht Lüneburg in seinem Urteil am 15. Juli 2015 festgestellt hatte.

300 000 ungarische Juden wurden nach der Ankunft sofort in Gaskammern ermordet

Während der "Ungarn-Aktion" hatte die SS im Laufe weniger Wochen mehr als 430 000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert, von denen mindestens 300 000 nach der Ankunft sofort in den dortigen Gaskammern ermordet wurden. In dieser Zeit war Oskar Gröning, damals 23, heute 95 Jahre alt, teils an der Rampe eingesetzt, teils als Bewacher von Gepäck. Doch selbst bei Abwesenheit von der Rampe sei Gröning der Beihilfe zum Mord schuldig, so die Richter. Voraussetzung für die "Ungarn-Aktion" sei das "Bestehen eines organisierten Tötungsapparats, der auf Basis seiner materiellen und personellen Ausstattung durch verwaltungstechnisch eingespielte Abläufe und quasi industriell ablaufende Mechanismen in der Lage war, in kürzester Zeit eine Vielzahl von Mordtaten umzusetzen". Durch den engen zeitlichen Bezug auf die "Ungarn-Aktion" hat der BGH das Problem umgangen, dass es in KZs auch zahlreiche andere Tätigkeiten für SS-Männer gab, die nicht zwangsweise zu Mordaktionen führten. Betroffene sagten später gern, sie wären nur als Koch oder in der Kleiderkammer tätig gewesen.

Defendant Groening sits next to his lawyer Susanne Frangenberg in the courtroom before the start of his trial in Lueneburg

Oskar Gröning und seine Verteidigerin Susanne Frangenberg vor dem Landgericht Lüneburg, das 2015 feststellte: Gröning war an der "Ungarn-Aktion" beteiligt gewesen, bei der Hunderttausende ermordet wurden.

(Foto: Reuters)

Im Umkehrschluss gilt damit auch, dass Wachleute in Vernichtungslagern wie Sobibor, Chelmno, Belzec oder Treblinka auf jeden Fall auch der Beihilfe zum Mord schuldig gesprochen werden können. Denn dort wurden die Juden meist innerhalb weniger Stunden nach Ankunft ihrer Kleider und Wertsachen beraubt und umgehend in die Gaskammern geführt. Der Fall des John Demjanjuk, der als Wachmann in Sobibor tätig gewesen war, hatte hier 2009 die Wende in der bisherigen Rechtspraxis eingeleitet. Der einstige ukrainische "fremdvölkische Hilfswillige" der SS wurde 2011 vom Landgericht München II wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28 000 Juden zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt, obwohl nur seine Anwesenheit im Lager nachgewiesen worden war, nicht aber, was er dort genau getan hatte. Bevor es zur Revision kam, starb Demjanjuk jedoch, sodass das Urteil nie rechtskräftig wurde. Dennoch wurden mit dieser Rechtsbeurteilung mehrere weitere Verfahren geführt, etwa das gegen Gröning, weitere könnten trotz des hohen Alters der Beschuldigten noch folgen.

Der Vizepräsident des Internationalen Auschwitzkomitees, Christoph Heubner, zeigte sich zufrieden mit dem lange herbeigesehnten Richterspruch. Der Beschluss zeige: "Jeder, der in Auschwitz mitgemacht hat, ist mitverantwortlich und mitschuldig. Für zukünftige Prozesse im Blick auf Völkermord wird dies ein lange wirkendes Signal sein." Die Vertreter der Nebenklage, Cornelius Nestler und Thomas Walther, die auch den Demjanjuk-Fall vorangetrieben hatten, freuen sich über eine "wichtige Korrektur der Rechtsprechung. Spät, aber nicht zu spät".

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