Justiz:Alles, was Recht ist

Justiz: Die Managerin Gina Miller hat gegen das Brexit-Verfahren geklagt.

Die Managerin Gina Miller hat gegen das Brexit-Verfahren geklagt.

(Foto: Daniel Leal-Olivas/AFP)

Der Supreme Court hat weniger zu sagen als das Bundesverfassungsgericht. Aber er entscheidet, wer das letzte Wort beim Brexit hat.

Von Alexander Menden

Das Gebäude, auf das sich derzeit alle Augen in Großbritannien richten, hat etwas tröstlich Altehrwürdiges: Die Middlesex Guildhall am Parliament Square ist ein stattlicher neugotischer Bau, der auch in einer Folge von "Downton Abbey" oder "Jeeves & Wooster" auftauchen könnte. Hier hat der Supreme Court seinen Sitz, oberstes Berufungsgericht des Vereinigten Königreiches. Zurzeit befasst sich das elf-köpfige Richtergremium dort mit der bedeutendsten Frage seiner bisherigen Geschichte: dem Brexit.

Gerade angesichts des innigen britischen Verhältnisses zur Tradition ist der Supreme Court selbst, anders als die Middlesex Guildhall, eine erstaunlich junge Einrichtung. Er wurde erst 2005 durch den sogenannten Constitutional Reform Act geschaffen. Das Gesetz sollte die bis dahin herrschende Verflechtung von Legislative und Judikative korrigieren. Denn bis vor elf Jahren erfüllte das House of Lords, das Oberhaus, die juristische Funktion als oberste Berufungsinstanz, die heute dem Supreme Court zufällt.

Das britische Gerichtssystem ist nur bedingt mit dem deutschen vergleichbar. Grob gesprochen hat der High Court, der das von der britischen Regierung angefochtene Urteil fällte, ungefähr die Befugnisse eines deutschen Landgerichtes. Er ist allerdings mit drei hochrangigen Richtern besetzt; zudem gibt es nur einen einzigen High Court. Er hat seinen Sitz in London, mit Bezirksvertretungen in ganz England und Wales. Bei ihnen kann jeder Bürger Eingaben zur erstinstanzlichen Anhörung machen. Normalerweise wäre der Court of Appeal die erste Berufungsinstanz. Beim gegenwärtigen Fall handelt es sich allerdings um einen sogenannten Leapfrog Appeal, eine "Bocksprungberufung", bei der alle Parteien sich darauf geeinigt haben, sofort das oberste Berufungsgericht hinzuzuziehen.

Der Supreme Court wiederum ist eher mit dem Bundesgerichtshof als mit dem Bundesverfassungsgericht vergleichbar. Er ist die oberste nationale Instanz ordentlicher Gerichtsbarkeit, kann aber kein Gesetz für unwirksam erklären. Das verbietet die britische Doktrin der Parlamentssouveränität: Es existiert keine geschriebene Verfassung, Gesetz ist, was das Parlament als Gesetz beschließt.

Die Regierung besteht darauf, dass sie bei der Einleitung der Brexit-Verhandlungen vom sogenannten royal prerogative Gebrauch machen darf. Dieses Recht der Regierung, ohne ausdrücklichen Parlamentsauftrag zu handeln, wird üblicherweise in außenpolitischen Zusammenhängen genutzt, bei Kriegserklärungen, oder wenn einem terrorverdächtigen Briten der Pass entzogen werden soll. Auch bei Belangen britischer Übersee-Protektorate findet der royal prerogative bisweilen Anwendung. Die High-Court-Richter bewerteten die Inkraftsetzung von Artikel 50 des EU-Vertrags zum Start des Austrittsprozesses jedoch als innenpolitischen Akt. Zahlreiche Gesetze des Vereinigten Königreiches, insbesondere der European Communities Act zum EU-Beitritt von 1972, fußten auf europäischem Recht und seien daher vom Brexit betroffen. Demnach gelte die Parlamentssouveränität, nicht der royal prerogative.

Eine bisher weniger beachtete Frage lautet, ob die Befugnisse des Supreme Court überhaupt für ein Urteil mit derartiger konstitutioneller Tragweite ausreichen. Das Vereinigte Königreich ist in drei getrennte territoriale Rechtssysteme unterteilt, England und Wales sowie Schottland und Nordirland. Der Supreme Court ist letztinstanzlich für alle drei Gebiete zuständig (mit Ausnahme von schottischen Strafsachen). Der Constitutional Reform Act sieht aber vor, dass seine Urteile nur für das Rechtsgebiet gelten, in dem der jeweilige Fall ursprünglich verhandelt wurde. Das hieße streng genommen, dass der Supreme Court das derzeitige Berufungsverfahren nur aus der Perspektive der englischen Gesetzgebung betrachten dürfte. Die Gesetze der - natürlich ebenso betroffenen - Gebiete Schottland und Nordirland müsste er ignorieren. Sollten die elf Londoner Richter das Urteil des High Court bestätigen, ist es allerdings sehr unwahrscheinlich, dass Schotten oder Nordiren dieses Urteil anfechten würden. Besonders die schottische Regierung unter der Ersten Ministerin Nicola Sturgeon hat ja großes Interesse daran, die Brexitpläne in Westminster zu verhandeln. Es wäre die erste wirkliche Gelegenheit für Sturgeons Scottish National Party, sich durch ihre dortigen Abgeordneten in den Prozess des EU-Ausstiegs einzuschalten.

Anders als zahlreiche aufgeregte Kommentare suggerieren, geht es bei dem Berufungsverfahren, mit dem sich der Supreme Court derzeit befasst, keineswegs darum, ob der Brexit stattfindet oder nicht. Wie Lord Neuberger, Präsident des Supreme Court, zu Beginn der ersten Sitzung betonte, wird hier einzig und allein darüber entschieden, welchen Weg die britische Regierung beschreiten muss, um Brüssel offiziell über die britischen EU-Ausstiegspläne zu benachrichtigen.

Sollte der Supreme Court die Berufung der Regierung abweisen, müsste Premierministerin Theresa May dem Unterhaus den Entwurf zu einem Gesetz vorlegen, das die Regierung ermächtigt, im Namen von Parlament und Volk die Verhandlungen über den Brexit aufzunehmen. Ausschließen darf man wohl jetzt schon, dass der Europäische Gerichtshof in Luxemburg in den Prozess eingeschaltet wird. Er wäre theoretisch die nächste, letzte Berufungsinstanz.

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