Jürgen Rüttgers:"Ich meine das ernst!"

Ein Kämpfer für das Soziale in der CDU: Auf dem Kongress über das Grunsatzprogramm forciert der Ministerpräsident von NRW lustvoll den Richtungsstreit gegen die Kanzlerin.

Jens Schneider

Erst sieht es wie Zufall aus. Aber daran werden die wenigsten im Berliner Congress Center glauben, wo die CDU an diesem Tag ihren Grundsatzprogramm-Kongress bis ins Detail geplant inszeniert. Auch dauert alles für einen Zufall viel zu lange. Seit' an Seit', wie man wohl bei Jürgen Rüttgers in Nordrhein-Westfalen sagen würde, schreiten die Kanzlerin und der Parteifreund Rüttgers, der ihr seit einigen Wochen zu einem viel beachteten internen Widersacher erwächst, in den Saal. Nebeneinander, aber auch vor allen anderen CDU-Prominenten, und es macht den Eindruck, dass Angela Merkel den großen, hier so heiter lächelnden Mann neben sich selbst dann nicht abschütteln könnte, wenn sie es wollte.

Jürgen Rüttgers

Jürgen Rüttgers profiliert sich auf Kosten von Angela Merkel

(Foto: Foto: dpa)

Diese gemeinsamen Schritte in den Saal hinein haben eine doppelte Symbolik, und Rüttgers, Stellvertreter Merkels an der Parteispitze, ist das offenkundig bewusst. Er kommt in den Saal, wie jemand, der genau weiß, dass er unter besonderer Beobachtung steht. Dass die Kamera-Objektive an ihm kleben und jeden Schritt festhalten. Mit diesem gemeinsamen Weg in den Saal demonstriert er Eintracht mit der Kanzlerin. Er will nicht als isolierter, zänkischer Außenseiter gesehen werden. Aber zugleich schreitet Rüttgers damit auch ganz vorn, auf einer Höhe mit der Parteichefin sozusagen.

Merkel stellt neuen Rekord auf

Er hat die besondere Aufmerksamkeit mit nur einem Vorstoß erworben, als er mitten im Sommerloch die CDU aufforderte, sie solle sich von ihren "Lebenslügen" verabschieden. Damit mahnte er mehr soziales Profil an. Das war unverkennbar eine Attacke auf den Merkel-Kurs, und hier in Berlin zeigt Rüttgers deutlich, dass er nicht lockerlassen und die Rolle als Galionsfigur des sozialen Flügels über den Sommer hinaus wahrnehmen will. Er zieht nicht zurück, im Gegenteil. "Ich meine das ernst!" betont er, als er später in einem Diskussionsforum zur Identität der CDU - nach der Einführungsrede durch die Kanzlerin gibt es acht prominent besetzte Foren - gefragt wird, ob er an seiner Kritik festhalte.

Und dann profiliert er sich, heiter und unaufgeregt, vor einem oft dankbar applaudierenden Publikum mit pointierten Aussagen zur Wirtschaftspolitik, die mehr soziale Gerechtigkeit einfordern. "Wir dürfen nicht alle Lebensbereiche ökonomisieren", fordert er und spricht von der bedrohten Mittelschicht, die erlebe, dass die Unternehmen Gewinne machen und dennoch entlassen. Er verlangt Antworten für Millionen Kinder, die in Deutschland von Sozialhilfe leben. Und es ist ihm wichtig zu betonen, "dass es auch die Wahrheit ist, nicht daran zu glauben, dass der Markt alles richtet."

Der Auftritt von Rüttgers hinterlässt auch deshalb einen starken, nachhaltigen Eindruck, weil die Kanzlerin ihm das freie Feld überlassen hat. In ihrer Einführungsrede zum Grundsatzkongress hat sie an diesem Vormittag vermutlich einen neuen Rekord aufgestellt, was die Zahl der offenen Fragen betrifft, die sie in einer halbstündigen Rede stellt, ohne eine Antwort auch nur zu skizzieren. An einer Stelle waren es gleich elf globale Fragen nacheinander, auf die Merkel drei allgemeine Feststellungen zu den Grundwerten der Partei folgen ließ, um dann die nächsten Fragen zu formulieren. Einmal spricht sie von einer Phantomdebatte, später greift sie das Rüttgers-Wort von der Lebenslüge mit Blick auf die deutsche Einheit auf, kommt also sehr von der Seite und verzichtet auf direkte Konter.

Schon wieder ein grundsätzlicher Vorstoß

So kann Rüttgers gelassen aus der Rede Merkels zitieren, ihre Bekenntnisse zur sozialen Marktwirtschaft aufnehmen, um sie gezielt mit Anmerkungen ergänzen. Auf dem Podium müsste ihm Fraktionschef Volker Kauder Paroli bieten, aber dessen Stärken liegen nicht im Debattieren. Und selbst wenn der als konservativer Vordenker geachtete Berliner Historiker Paul Nolte die Rüttgers-Linie kritisch sehen mag, adelt er die von diesem ausgerufene Debatte doch dadurch, dass er ihr grundsätzliche Bedeutung zumisst.

Es passt zu diesem Tag, dass Rüttgers auf dem Podium den ersten Beitrag leisten darf und das Schlusswort bekommt. Dazwischen betont er, Politiker dürften keinesfalls Missionare sein wollen. Er halte es da mit der Empfehlung eines Bischofs, Politiker sollten sich einen Zettel mit dem Spruch "Du musst heute nicht die ganze Welt retten" vor jedes Mikrophon legen. Kaum hat Rüttgers das gesagt, unternimmt er den nächsten grundsätzlichen Vorstoß.

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