Lammert über Judentum in Deutschland:Ihr seid wir

"Wollt ihr uns Juden noch?". Die Frage von Charlotte Knobloch ist erschreckend. Die Antwort des Staates ist eindeutig: An der Ernsthaftigkeit, dem jüdischen Glauben volle Entfaltung zu geben, gibt es keinerlei Zweifel.

Norbert Lammert

Es gibt eine neue Debatte über jüdisches Leben in Deutschland, und es gibt Anlässe. Es gibt offen antisemitische Parolen und Aktivitäten unbelehrbarer Fanatiker, gewalttätige Überfälle auf durch ihre Kopfbedeckung erkennbare Menschen jüdischen Glaubens, es gibt nicht zuletzt das Urteil des Kölner Landgerichts. Die öffentliche Debatte über religiös motivierte Beschneidungen hat viele Menschen in Deutschland irritiert, manche Juden auch tief verletzt.

Jüdisches Leben zwischen Blüte und Zweifel

Die Lehren aus dem Holocaust zu ziehen - das gehört zum Grund- und Gründungsbewusstsein dieser zweiten deutschen Demokratie. Wir akzeptieren keinen Antisemitismus, unabhängig davon, ob er einheimisch oder zugewandert ist.

(Foto: dpa)

"Wollt ihr uns Juden noch?", hat Charlotte Knobloch in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung gefragt. Sie, die seit Jahrzehnten immer erklärt habe, warum "es gut ist, in diesem Land zu leben", verspüre erstmals Resignation und frage sich "ernsthaft, ob dieses Land uns noch haben will".

Dass es nach den traumatischen Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur und des Holocausts überhaupt wieder jüdisches Leben in Deutschland gibt, dass inzwischen viele Tausend jüdische Bürger zugezogen sind, hier ihre Kinder großziehen und bleiben wollen, dass es neue Synagogen und jüdische Kindergärten gibt: Das ist tatsächlich nicht nur eines der schönsten Komplimente an die zweite deutsche Demokratie. Es ist auch eine überwältigende Vertrauenserklärung.

Wir haben deshalb allen Grund, Gefühle des Zweifels und der Resignation sehr ernst zu nehmen, zumal wenn eine Persönlichkeit sie öffentlich formuliert, die in ihrer Biografie den eindrucksvollen Nachweis der Identifizierung gleichermaßen mit Deutschland wie dem jüdischen Glauben erbracht und unermüdlich zur Verständigung und Versöhnung zwischen Juden und Christen, zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen beigetragen hat.

Dankbarkeit für jedes Wiedererwachen jüdischer Kultur

Die Freude der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung und der ganzen sogenannten politischen Klasse in Deutschland darüber, dass jüdisches Leben zurückkehrt, die Dankbarkeit für jedes Wiedererwachen jüdischer Kultur sind jedoch keine "Augenwischerei", wie Charlotte Knobloch meint. Auch diese Gefühle verdienen es, ernst genommen zu werden.

Jedes Bemühen, unser Land dem Ziel ein Stück näher zu bringen, das der frühere Zentralratspräsident Paul Spiegel einmal hoffnungsvoll die "Renaissance des Judentums" genannt hat, geschieht im Wissen um den unwiederbringlichen Verlust an Menschen, Geist und Kultur - eine Erfahrung, die sich in das kulturelle Gedächtnis dieses Landes fest eingeschrieben hat.

Die Lehren aus dem Holocaust zu ziehen - das gehört zum Grund- und Gründungsbewusstsein dieser zweiten deutschen Demokratie. Wir akzeptieren keinen Antisemitismus, unabhängig davon, ob er einheimisch oder zugewandert ist. Wir begegnen ihm mit den Mitteln der Strafverfolgung und treten ihm von Seiten des Staates und als Zivilgesellschaft in zahllosen Initiativen entgegen. Öffentlich gelebte jüdische Religion und Kultur soll selbstverständlicher Teil des Alltags in unserem Land sein.

Die vom Staat wie von bürgerschaftlichen Initiativen getragene Erinnerungskultur richtet ihren Blick nicht allein auf das unfassbare Leid, das Juden in Deutschland erlitten haben, sondern auch auf die jüdische Kultur, in der Geschichte ebenso wie hier und heute. Neben dem Holocaust-Mahnmal als Zeichen der Entschlossenheit unseres Staates, an das beispiellose Verbrechen zu erinnern, vermitteln Museen die kulturelle Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland, nirgendwo prominenter und demonstrativer als in der Hauptstadt.

Teil dieser einen deutschen Gesellschaft

An der Ernsthaftigkeit des Staates, seiner Verfassungsorgane in Bund und Ländern, dem jüdischen Glauben rechtlich wie faktisch Raum zu seiner vollen Entfaltung zu geben, sind keine Zweifel begründet.

Alle 16 Länder haben ihre Beziehungen zu den jüdischen Gemeinden und Gemeinschaften umfassend geregelt und auf eine vertragliche Basis gestellt, staatskirchenrechtlich wie finanziell.

Daneben schlossen der Bund und der Zentralrat der Juden in Deutschland am Holocaust-Gedenktag 2003 einen Staatsvertrag, der binnen eines Jahrzehnts bereits zweimal nachgebessert wurde. Darin vereinbarten Staat und Zentralrat eine kontinuierliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit, im "Bewusstsein der besonderen geschichtlichen Verantwortung des deutschen Volkes für das jüdische Leben in Deutschland", wie es in der Präambel heißt, und "geleitet von dem Wunsch, den Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland zu fördern und das freundschaftliche Verhältnis zu der jüdischen Glaubensgemeinschaft zu verfestigen und zu vertiefen".

Vielleicht verursachen gerade deshalb das Urteil des Landgerichts Köln und die kontrovers geführte öffentliche Debatte Irritationen. Die Haltung des Staates aber ist unverändert. Der Bundestag hat am Ende seiner abwägenden Beratung vom 19. Juli mit breiter Mehrheit eine Resolution verabschiedet - und weder die spätere Empfehlung des Deutschen Ethikrats noch die vorläufige Regelung der Berliner Justiz haben sie in ihrem Kern verändert oder gar zurückgenommen.

Klärung einer rechtlichen Grauzone

Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, im Herbst 2012 einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sowohl das Kindeswohl (Artikel 2 Grundgesetz) als auch die Religionsfreiheit (Artikel 4) sowie das Recht der Eltern auf Erziehung (Artikel 6) berücksichtigen soll - mit dem Ziel, religiöse Traditionen und Rituale im Rahmen unserer Rechtsordnung zu ermöglichen.

Niemand kann also ernsthaft behaupten, der Deutsche Bundestag wolle eine notwendige Debatte vorschnell beenden oder eine notwendige rechtliche Klarstellung verzögern. Schon gar ist der Verdacht völlig unbegründet, in vorauseilender Verwirklichung des Kölner Landgerichtsurteils sollte ausgerechnet in Deutschland jüdische Identität in einem Kernbereich eingeschränkt werden. Das Gegenteil ist der Fall.

Bundestag und Bundesregierung wollen die Klärung einer bislang rechtlichen Grauzone sensibel und zielführend möglich machen. Die sorgfältige Auseinandersetzung müssen wir uns allerdings zumuten; sie wird auch längst innerhalb der jüdischen Gemeinschaft geführt.

"Wollt ihr uns Juden noch?" Ich wünschte mir, diese bestürzende Frage würde sich unmissverständlich von selbst beantworten. Aber mit ihr wirft Charlotte Knobloch auch die Frage auf: Wen meint "ihr"? Und wer ist "uns"? "Wir" in diesem Land - Juden wie Nichtjuden, Christen, Muslime oder Atheisten - unterscheiden uns in unserem Glauben. Aber uns eint, Teil dieser einen deutschen Gesellschaft zu sein. Und in ihr sind wir alle auf dem Boden des Grundgesetzes, seiner Werte und Grundrechte, gefordert, die gemeinsame Basis für unser Zusammenleben zu wahren und fortzuentwickeln. Ihr seid wir.

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