Juden in Nazi-Deutschland:"Wir verlassen diese Hölle"

Reichspogromnacht -Judenverfolgung

SA-Männer mit einem Boykott-Plakat vor einem jüdischen Geschäft

(Foto: dpa)

Ab 1933 wird die Lage für Juden in Deutschland stetig bedrohlicher. Wie es drei jungen Menschen im Nazi-Staat erging - und wie sie überlebten.

Von Oliver Das Gupta

Es ist die Nacht, in der alles anders wurde. Bis zu jener Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 klammern sich die verbliebenen Juden in Deutschland an die Hoffnung, dass wieder bessere Zeiten kommen. Dieses Regime kann keinen Bestand haben, glauben viele. Denn man ist ja nicht irgendwo auf der Welt. Sondern im Land der Dichter und Denker, in Deutschland. So haben es Zeitzeugen erlebt:

Edgar hört Schreie von draußen. Glas zersplittert, etwas explodiert. Orangerot leuchtet es irgendwo in die Nacht über München. Machen wir das Licht aus und die Vorhänge zu, sagt der Vater. Lass uns die Tür abschließen, und gehen wir schlafen. Morgen reisen wir ab.

Edgar legt sich ins Bett, er kann nicht einschlafen. Plötzlich schreckt er hoch. Jemand brüllt. Das Licht in seinem Zimmer geht an. Männer in Uniform schauen Edgar an. Er ist 14, er kann bleiben. Sie wollen den Vater. Sie haben ihn an den Armen gepackt. Hab keine Angst, Bürschi, sagt er zu Edgar. Ludwig Feuchtwanger nimmt den Kopf seines Sohnes zwischen die Hände und küsst ihn. Dann nehmen die Männer den Vater mit.

Bis dahin sind seit 1933 etwa 100 000 Juden ins Ausland gegangen, mehr als 350 000 blieben in der geliebten Heimat. Das Pogrom, das im Volksmund bald "Reichskristallnacht" genannt wird, ändert die Ansichten vieler jüdischer Deutscher. Nun wollen die meisten weg.

Systematische Judenverfolgung seit 1933

Seit 1933 hatten sie schon so viel Unerträgliches ertragen müssen. Gleich nachdem die demokratiefeindlichen Nationalkonservativen Adolf Hitler zur Reichskanzlerschaft verholfen hatten, begann die systematische Judenverfolgung.

Die Männer der Nazi-Schlägertruppe SA und der damals noch kleinen SS zerstörten Geschäfte, attackierten unschuldige Menschen, schmierten das Wort "Jude" an Schaufenster. Wer sich wehrte, musste noch Schlimmeres fürchten. Der Rechtsanwalt Michael Siegel wagte es, zur Münchner Polizei zu gehen, weil Hitlers Leute das Kaufhaus eines Klienten demoliert hatten. In der Ettstraße, wo sich das Präsidium heute noch befindet, schlugen sie ihm Zähne aus und so stark auf die Ohren, dass ihm ein Trommelfell platzte. Dann trieben SS-Männer Siegel mit abgeschnittenen Hosen über den Stachus. Um seinen Hals hing ein Schild, auf dem stand: "Ich werde mich nie mehr bei der Polizei beschweren."

Der jüdische Anwalt M. Siegel wird durch München geführt

Es geschah in aller Öffentlichkeit: Ohne Schuhe und mit abgeschnittenen Hosenbeinen trieben SS-Leute Michael Siegel am 10. März 1933 durch München.

(Foto: SZ-Photo)

Das geschah am 10. März 1933, keine sechs Wochen nach Hitlers Machtübernahme. Der Staat schützte seine jüdischen Bürger nicht mehr, der Staat tolerierte Straftaten, wenn sie an Juden begangen wurden. Damit einher ging der "Judenboykott", der Aufruf an den Rest der Bevölkerung: "Kauft nicht bei Juden."

Dem Terror auf der Straße folgte bald die staatliche Legitimierung der gesellschaftlichen Ausgrenzung und finanziellen Schädigungen. Im April 1933 erließ die Reichsregierung Hitler das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums", der einen "Arierparagraphen" enthielt. Alle Beamten jüdischer Abstammung wurden entlassen (abgesehen von Veteranen des Ersten Weltkrieges, die erst später hinausgedrängt wurden).

Völlige Entrechtung durch die Nürnberger Gesetze 1935

Insgesamt mehr als 2000 antisemitische Gesetze kamen während der nationalsozialistischen Diktatur hinzu. Besonders berüchtigt waren die Nürnberger Rassengesetze, die 1935 eine nahezu völlige Entrechtung implementierten. Nun hatte man den Juden ihrer Bürgerrechte beraubt. Und verbot ihnen, Liebesbeziehungen und Geschlechtsverkehr mit Ariern zu haben. Wer trotzdem "Rassenschande" betrieb, kam ins Gefängnis.

Die Diskriminierung zog sich brachial durch alle Lebensbereiche im ganzen Reich. Juden wurden aus Kultur- und Forschungseinrichtungen entlassen und durften nicht mehr als Journalisten arbeiten. Das Freibad Wannsee verbot "Juden das Betreten des Bades". Auf Berghütten wurden keine Juden geduldet, Juden durften nicht mehr jagen. Auf der Bodensee-Insel Reichenau war die Plakette befestigt: 'Der Heilige Pirmin hat vor 1000 Jahren befreit von Ungeziefer unser Inselland. Drum, Jud, bleib weg, sonst kommt der Pirmin wieder und jagt dich ins gelobte Land!'.

Juden in Nazi-Deutschland: Wurde als Studentin diskriminiert, weil ihre Mutter Jüdin war: Ingeborg Rapoport

Wurde als Studentin diskriminiert, weil ihre Mutter Jüdin war: Ingeborg Rapoport

(Foto: Oliver Das Gupta)

An der Universität Hamburg mobben die Medizin-Studenten den Professor Heinrich Poll, weil er als "Halbjude" gilt. In seinen Anatomie-Vorlesungen schreien sie ihn nieder. Ingeborg Syllm sieht, wie ihre Kommilitonen den einst angesehenen Professor behandeln. Sie ist empört. Und sie hat Angst. Ihre Mutter ist jüdisch. Ins Casino der Uni darf sie bald nicht mehr gehen. Sie bekommt eine gelbe Studentenkarte und bei Klausuren tragen ihre Unterlagen einen gelben Streifen. Es ist das Gelb des Judensterns (der erst später während des Zweiten Weltkrieges eingeführt wird).

Als Syllms 25 ist, will sie ihre Doktorarbeit über Diphterie einreichen. Die NS-Hochschulleitung nimmt die Dissertation nicht an. Ihre Mutter sagt: Es wird noch viel schlimmer. Und: Du musst gehen. Also geht Ingeborg Syllm, sie emigriert in die USA. Mit einem Koffer und 38 Reichsmark. Mehr darf sie nicht mitnehmen. Sie fühlt fühlt sich verstoßen. Es ist August 1938.

Hitlers Macht ist nach fünfeinhalb Jahren total geworden. Seine Schergen kontrollierten und lenkten Deutschland und seine Menschen. Und die meisten Deutschen ließen sich gerne lenken. Liberalität und Demokratie waren Schimpfwörter, niemand wollte so sein. Toleranz war Schwäche, Rasse war alles.

Hitlers "Erfolge" konnten sich sehen lassen. Er eröffnete Autobahnen (die noch vor seinem Antritt geplant waren) und die Olympischen Spiele. Er brach den Versailler Vertrag, den auch viele linke Patrioten als ungerecht ansahen. Die Wehrpflicht wurde eingeführt, Panzer und Flugzeuge wurden gebaut. Das entmilitarisierte Rheinland ließ er besetzen, das Saarland kehrte nach einer Abstimmung "Heim ins Reich". Im März 1938 ließ Hitler die Wehrmacht in Österreich einmarschieren und verkündete den "Anschluss" seiner Heimat.

Nachbar Adolf Hitler

Angst hatten trotzdem auch viele "Arier". Es war die Angst, etwas falsch zu machen, aufzufallen in Hitlers Reich der Blockwarte und NSDAP-Ortsgruppenleiter. Es wurde hingenommen, dass immer mehr Menschen in Konzentrationslagern verschwanden, weil sie Juden oder Kommunisten waren oder Sozialdemokraten oder aufrechte Christen.

Außerdem ging ja alles nach Recht und Gesetz, auch die "Arisierung" genannten Enteignungen jüdischen Eigentums, die im Frühjahr 1938 begannen. Die Deutschen freuten sich über Schnäppchen.

Gegen die Zerstörung von Synagogen im Reich sagte niemand etwas. Weder in Nürnberg, wo der Judenhasser und dortige Gauleiter Julius Streicher den Abrissbefehl regelrecht zelebrierte, noch in München, wo die Behörden den Abriss der Alten Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße anordneten.

Reichspogromnacht -Judenverfolgung

SA-Männer mit einem Boykott-Plakat vor einem jüdischen Geschäft in Berlin.

(Foto: dpa)

Im Juni wird der prächtige Monumentalbau im Herzen der Stadt eingerüstet. Ernst Grube schaut von nebenan dabei zu, wie die Baufirma Leonhard Moll die Synagoge abbricht. Ernsts Mutter ist jüdisch, der Vater Christ. Aber Religion spielt in der Familie eigentlich keine Rolle. Ernst ist fünf Jahre alt und versteht nicht so recht, was los ist. Aber er spürt, dass etwas nicht stimmt. Dass es dort draußen etwas Bedrohliches gibt.

Das Haus, in dem der Fünfjährige mit seiner Familie lebt, gehört der Jüdischen Gemeinde, genauso wie weitere, anschließende Gebäude. Dort gab es einen Hof, in dem Ernst spielte, auch eine Kammer voller Spielzeug und Kleidung für Bedürftige. Für Ernst ist es eine heile Welt. Das Gotteshaus, die Wohnung, die Nachbarshäuser. Das war Ernsts kleine Heimat, bis zum Juni 1938. Als die Bauarbeiter kamen.

Nach dem Abbruch der Synagoge holen sich die NS-Behörden die Häuser der Gemeinde. Die Grubes sollen ausziehen. Aber wohin? Emigration war nie ein Thema, die Grubes haben wenig Geld, Ernsts Vater ist Malermeister. Die Grubes ignorieren die Forderung. Man stellt ihnen Strom und Wasser ab. Am 7. November 1938 werden Ernst und seine Geschwister abgeholt und ins jüdische Kinderheim nach Milbertshofen gebracht.

Hass, Gewalt und Flucht nach 1938

Zwei Tage später begannen die Pogrome im Reich. Synagogen brannten, und SA-Leute schändeten und zerstörten Geschäfte (den Schaden mussten die Juden später selbst zahlen). Hitlers willige Helfer erschlugen Menschen oder stießen sie von Balkonen. Zehntausende Juden wurden verschleppt. Oder versuchten zu fliehen.

Einer davon ist Ludwig Feuchtwanger, der Münchner Verleger, bislang wohnhaft in der Grillparzerstraße in Bogenhausen. Schon vor seiner Verhaftung war ihm und seiner Frau klar, dass sie Deutschland verlassen müssen. Allein schon wegen Edgar, dem Sohn. Aber wohin? Wer nimmt schon Juden auf? Dorle, die ältere Tochter, hat in der Schweiz geheiratet. Vater Feuchtwanger fuhr alleine zur Hochzeit, denn drei Visa hätten die Schweizer Beamten der jüdischen Familie nicht ausgestellt. Dabei waren schon einige Verwandte emigriert. Etwa Edgars Onkel Lion nach Frankreich, in dessen berühmtem Roman "Erfolg" der Schreihals Hitler schon auftauchte.

Edgar Feuchtwanger

Edgar Feuchtwanger während seines SZ-Gesprächs.

(Foto: Daniel Hofer)

Aber nun ist Ludwig Feuchtwanger im KZ. Seine Frau darf nicht zu ihm. Edgar glaubt, dass er den Vater nie wiedersehen wird. Die Familie bereitet die Flucht vor. Die Behörden ordnen an, dass sie neue Vornamen tragen sollen. Edgar heißt Edgar-Israel, wie alle männlichen Juden. Mutter Erna trägt wie alle Jüdinnen den Namen Sarah. Dann steht ein Mann vor der Tür, ein Händler. Er schaut sich in der Wohnung um. Am nächsten Tag kommt er mit Möbelpackern und beschlagnahmt, was er will. Sie nehmen auch die Bilder von der Wand und das Tafelsilber. Der Mann sagt: Das ist nur Plunder, Sie können sich glücklich schätzen. Er lässt Geldscheine da.

Am 20. Dezember steht der Vater vor der Tür. Ausgezehrt, abgemagert, ein Schatten. Nach ein paar Tagen hat er sich erholt. Er sagt zu Edgar: Wir verlassen diese Hölle, und dann werden wir nicht mehr unter den Augen dieses Dreckskerls wohnen. Ludwig Feuchtwanger meint den Nachbarn von schräg gegenüber. Sein Name: Adolf Hitler.

Was aus Edgar Feuchtwanger, Ernst Grube und Ingeborg Syllm wurde

Die Feuchtwangers emigrierten 1939 nach Großbritannien, wo Edgar als Historiker lehrte und noch heute lebt. Seine Kindheitserinnerungen hat er im Buch "Als Hitler unser Nachbar war" aufgeschrieben. (Siedler-Verlag ISBN 9783827500380).

Ernst Grube überlebte den Zweiten Weltkrieg, er wurde im KZ Theresienstadt befreit. Er wohnt in Regensburg. Hier sind seine Kindheitserinnerungen an München während der NS-Zeit.

Ingeborg Syllm wurde in den USA Kinderärztin und heiratete Samuel Mitja Rapoport. Die Familie siedelte erst nach Österreich und dann in die DDR über, wo Ingeborg Rapoport an der Charité lehrte. Sie lebt in Berlin. Im Mai 2015 hat sie im Alter von 102 Jahren ihre von den Nazis abgelehnte Doktorarbeit erfolgreich verteidigt und doch noch promoviert (hier mehr dazu).

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