Juden in Indien:Wir hatten nie Angst - bisher

Die jüdische Gemeinde in Indien war seit Tausenden Jahren die Einzige, die nicht unter Verfolgungen leiden musste - bis vor einer Woche. Die Geschichte der indischen Juden.

Naresh Fernandes

Als indischer Christ erinnere ich meine jüdischen Freunde ab und zu daran, dass ich ihnen meinen Glauben verdanke: Laut indischer Überlieferung segelte ein paar Jahre nach Christi Tod der Apostel Thomas nach Südindien, an die Küste des heutigen Kerala, um dort unter seinen jüdischen Glaubensbrüdern das Evangelium zu verbreiten.

Juden in Indien: Nach dem Überfall von Terroristen auf Luxushotels in Mumbai trauern Inder.

Nach dem Überfall von Terroristen auf Luxushotels in Mumbai trauern Inder.

(Foto: Foto: dpa)

Juden gibt es in Indien schon seit Tausenden Jahren; vielleicht kamen die ersten mit der Karawane vom Hof des Königs Salomo, die angeblich mit "Elephantenzähnen, Pfauen und Affen" handelte. Die Juden von Cochin wollten von Thomas' froher Botschaft angeblich nichts wissen, obwohl er andernorts viele Menschen bekehren konnte.

Indiens weit zurückreichende jüdische Geschichte, die so deutlich die Glaubenstoleranz unseres Landes belegt, war lange Zeit eine Quelle des Stolzes für uns. Aber noch stolzer waren wir darauf, dass indische Juden nie Verfolgung erleiden mussten.

Im Gegenteil, den Juden ging es sehr gut bei uns, und nirgendwo kann man das so deutlich sehen wie in Mumbai. Einige der bekanntesten Wahrzeichen wurden erbaut mit Spendengeldern jüdischer Philanthropen, die durch Handel und Handwerk reich geworden waren.

Die berühmtesten unter ihnen waren die Sasoons, eine Familie aus dem Irak. Ihr Name steht auf Plaketten an mindestens vier Schulen, einer herrlichen Bibliothek und mindestens zwei der neun städtischen Synagogen.

Nehru als Fürsprecher

Ein weit unheimlicheres Wahrzeichen für die Rolle unserer Stadt als Zufluchtsort für Juden ist die mit Marmorplaketten übersäte Wand auf dem Friedhof von Chinchpokli: Erinnerungen an Menschen, die in Auschwitz starben, gestiftet von Verwandten oder Freunden, die hier Zuflucht fanden, weil sich Jawaharlal Nehru, unser späterer Premierminister, bei der britischen Regierung vehement dafür einsetzte, osteuropäischen Juden die Einreise nach Indien zu gestatten.

Viele der damals Exilierten wurden fester Bestandteil der Bombayer Society, und man kann kaum ermessen, wie viel die moderne indische Kunstszene ihnen zu verdanken hat: Rudolf von Leyden, Walter Langhammer und Emanuel Schlesinger hatten farbige Reproduktionen der modernen Meister im Gepäck, brachten Ideen in die Salons der Stadt und öffneten vielen Künstlern die Augen für eine neue Geisteswelt, so dass F. Husain, F.N. Souza und K.H. Ara 1947 das Progressive Artists Movement gründeten, das sich zum Ziel setzte, die Geschichten ihrer gerade unabhängig gewordenen Nation neu und anders zu bebildern.

Aber trotz dieser Bedeutung der Bagdader oder der europäischen Juden - die jüdische Gemeinde, die die tiefsten Spuren in der Stadt hinterlassen hat, sind die Bene Israel, die "Söhne Israels", die glauben, dass ihre Vorfahren 175 vor Christus südlich von Mumbai Schiffbruch erlitten.

Die Bene Israel sprechen das westindische Marathi, die Frauen tragen Saris und sie alle essen Reis und scharfes Fischcurry. Früher arbeiteten viele Bene Israel als Ölpresser, sie gründeten sogar die Gilde der "Shanivar Teli", also der Samstagsölpresser, weil sie den Shabbath einhielten.

Später zogen viele von ihnen nach Mumbai, wo sie 1796 eine Synagoge bauten. Aus der Bene-Israel-Gemeinschaft stammen ein Oberbürgermeister, ein bedeutender Rockmusiker, eine Schar Bollywood-Schauspieler und ein Mitglied der indischen Zentralbank.

Das vielleicht berühmteste Mitglied dieser Gemeinschaft war Nissim Ezekiel, einer der Pioniere englischsprachiger indischer Poesie. Mein Lieblingsgedicht von ihm heißt "Island", also "Insel", es ist eine Hommage an meine Heimatstadt. Die erste Strophe lautet "Unsuitable for song as well as sense / the island flowers into slums / and skyscrapers, reflecting / precisely the growth of my mind. / I am here to find my way in it."

Obwohl es 1947, als Indien unabhängig wurde, 25.000 indische Juden gab, war ihre Gemeinde bis 1991 auf nur 5271 Mitglieder geschrumpft, die anderen hofften auf eine bessere Zukunft in Israel. Aber viele indische Juden, die hierblieben, haben ein zweischneidiges Verhältnis zu dem Land, das ihnen die Möglichkeit gibt, jederzeit zurückzukehren.

Einer von ihnen ist mein Freund Robin David, der Autor des Buchs "Stadt der Angst", ein unglaublich gutes Buch, in dem er die grauenhaften Pogrome gegen Muslime in seinem Heimatbundesstaat Gujarat beschreibt, deren Augenzeuge er 2002 wurde. Er erklärt darin auch seine Enttäuschung über Israel.

Lesen Sie auf der nächsten Seite über das Verhältnis indischer Juden zum Staat Israel.

Wir hatten nie Angst - bisher

Drei Anläufe hat er unternommen, dorthin zu ziehen, nur um am Ende jedes Mal wieder zurückzukehren. "Ich musste erkennen, dass das Gelobte Land nicht mein Heimatland ist", schreibt er. "Nicht einmal der starke Geruch von Gewürzen, der vom arabischen Markt her durch die sandsteingelben Mauern Jerusalems zieht, ließ mich heimisch fühlen. Es roch genau wie Teen Darwaza (in seiner Heimatstadt Ahmedabad in Gujarat; Anm. d. Red.), aber es war trotzdem anders als zu Hause."

So wie David begegnen viele ältere Inder, gerade weil sie um unseren eigenen antiimperialistischen Kampf wissen, Israel mit Skepsis, wegen der Art, wie das Land die Palästinenser behandelt, obwohl niemand deshalb auch nur auf die Idee kommen würde, zu behaupten, dass indische Juden für die Politik Israels verantwortlich zu machen wären.

Indien hat erst 1992 diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen, aber seither sind die beiden Länder dickste Freunde und betreiben regen Waffenhandel miteinander. Viele Inder mit einer gewissen politischen Grundeinstellung bewundern Israel dafür, dass es so rigoros mit Terroristen umgeht, und Leserbriefschreiber empfehlen unseren Politikern in Neu-Delhi regelmäßig, ihre Lektion von Israel zu lernen.

Und dann gibt es in den gegenseitigen Beziehungen noch einen Aspekt, von dem die meisten Inder gar nicht wissen. Jedes Jahr kommen ungefähr 20.000 Israelis, die gerade ihren Wehrdienst beendet haben, nach Indien, um hier Ferien zu machen.

Hier kommen sie mit ihrem Sold von 15.000 Schekel (3000 Euro; Anm. d. Red.) ziemlich weit und, wie es ein Israeli mir gegenüber ausdrückte: "Es ist angenehm, mal an einem Ort zu sein, wo du nicht dauernd aufpassen musst, was hinter deinem Rücken passiert." Die Strände von Goa und die Himalayatäler von Kulu und Manali sind als Reiseziele besonders beliebt.

Mission in Mumbai

Die vielen israelischen Touristen auf dem Subkontinent brachten die in Brooklyn ansässige ultra-orthodoxe Lubawitsch-Sekte dazu, 2000 in Pune eines ihrer Chabad Houses genannten Missionszentren einzurichten.

Vor zwei Jahren bin ich nach Pune gereist, um ein Interview mit Rabbi Betzalel Kupchick zu führen, der das Zentrum leitet. Rabbi Kupchick sagte, indem er gratis Essen und die Möglichkeit anbiete, sich wieder einmal auf Hebräisch zu unterhalten, öffne er eine Raum für den gemeinsamen Dialog. "Es gibt viele Wege, auf denen Gott die Menschen zu sich führt", erklärte er mir geduldig.

"Hier, ohne den üblichen Druck der Familie oder der Gesellschaft, sind Israelis viel offener. Viele machen hier überhaupt ihre ersten spirituellen Erfahrungen. Wenn sie nach Indien kommen, sind sie auf der Suche."

Mittlerweile haben während der touristischen Hochsaison solche Zentren auch in anderen Städten aufgemacht. Das Mumbai Chabad House war so unauffällig, dass überhaupt nur wenige Juden in Mumbai von seiner Existenz wussten. Bis zu den Anschlägen vom vergangenen Mittwoch.

Die indische jüdische Gemeinde kommt kaum in Kontakt mit den Touristen aus Israel und beschwert sich oft darüber, dass trotz all der Besucher, die Woche um Woche aus dem Gelobten Land nach Mumbai strömen, die neun Synagogen Schwierigkeiten haben, die zehn jüdischen Männer zusammenzubringen, die man braucht für den Gottesdienst.

Außerdem wurde die ultra-orthodoxe Ausrichtung der Lubawitscher von den liberalen indischen Juden mit Misstrauen beäugt.

Diese Kluft verschwand Mittwochnacht. Als ich am Freitag mit Robin David telefonierte, konnte er es immer noch nicht fassen. "Die jüdische Gemeinde von Indien ist weltweit die einzige, die nicht durch Verfolgung geprägt wurde", sagte er. "Wir hatten nie Angst. Durch diese Anschläge fühlen wir uns zum ersten Mal als Juden."

Das war für mich eines der tragischsten Opfer der Terroranschläge. Im Bombardement der Granaten und Gewehrkugeln wurde ein Teil des 2500 Jahre alten indischen Traums unter einem Haufen blutiger Betonsplitter begraben.

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