Journalisten bei der Europawahl:Auf der anderen Seite

Lucas Zeise

Mitbegründer der FTD: DKP-Kandidat Lucas Zeise

(Foto: BOSTELMANN / BILDFOLIO)

Bei der Europawahl treten 19 Journalisten als Kandidaten an - mehr als je zuvor. Manche Neupolitiker empfinden das als großen Spaß, andere wollen lieber gestalten als nur zu berichten. Eine Spurensuche zwischen Spargel, Kommunisten und Jesus-Freunden.

Von Nadia Pantel

Die junge Polizistin steht stirnrunzelnd zwischen dem Häuflein Menschen, das vor dem Frankfurter Hauptbahnhof rote Fahnen schwenkt: "Was soll das hier sein?" "Eine Demonstration." "Für was?" "Für den Fortschritt." "Und warum sind sie so wenige?" "Ja, das weiß ich auch nicht," Lucas Zeise, 69, lächelt entschuldigend. Braunes Sakko, runde Brille, die Hände auf dem Rücken ineinander gelegt - eher ein Flaneur als ein Revoluzzer. Doch als sich die Gruppe in Bewegung setzt und ein junger Mann mit Kapuzenpullover "Hoch!" ins Megafon brüllt, stimmt Zeise sofort mit ein "...die! Inter-na-tio-na-le! So-li-da-ri-t-ät! Hoch! Die..."

Lucas Zeise ist Mitbegründer der Financial Times Deutschland, und er kandidiert für die Deutsche Kommunistische Partei, die DKP, für die Europawahl. Er ist einer von 19 Europawahl-Kandidaten, bei denen als Berufsbezeichnung "Journalist" steht. Wenn man an den alten Leitspruch von Hanns Joachim Friedrichs glaubt, Journalisten sollten "sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten", dann ist der kandidierende Journalist ein Widerspruch in sich. Aber keine Seltenheit. Susanne Gaschke (SPD): von der Zeit zur Oberbürgermeisterin von Kiel. Doris Schröder-Köpf (SPD): vom Focus in den niedersächsischen Landtag. Steffen Seibert (CDU): vom ZDF zum Regierungssprecher. Bei der Europawahl 2009 traten 13 Journalisten an, sieben Journalisten schafften es nach der Wahl 2013 in den Bundestag. Viele dieser Journalisten haben seit Jahren nichts publiziert. Andere schreiben ohnehin nur fürs Parteiblatt.

Dass der Seitenwechsel so spektakulär daherkommt wie bei Lucas Zeise ist die Ausnahme. Ein Finanzjournalist ist Kommunist. Im Ernst, Herr Zeise? "Es ist doch das Gleiche mit anderen Mitteln. Ich will aufklären darüber , wie das System wirklich funktioniert." Und das System abschaffen? "Zu meinen Lebzeiten glaube ich nicht mehr an die Revolution, aber ich bin ja auch schon fast 70. Ich halte die Zukunft des Kapitalismus für begrenzt."

"Auch als Kommunist ist man von Lohnarbeit abhängig", sagt er über sein altes Leben

1970 tritt Lucas Zeise in die DKP ein. "Weil es so nicht weitergehen kann mit dem Kapitalismus." Zeise ist DKP-Mitglied, als er ein Diplom in Volkswirtschaftslehre macht, als er in den 80er Jahren für das japanische Ministerium für Außenhandel und Industrie über die deutsche Wirtschaft berichtet, als er die Fachzeitschrift der deutschen Aluminiumindustrie namens Aluminium herausgibt, als er das Finanzressort des Börsenblattes leitet und als er 1999 schließlich gebeten wird, den deutschen Ableger der Financial Times mit aufzubauen. Er ist DKP-Mitglied, als er dort das Finanzressort leitet und später eine zweiwöchige Kolumne schreibt und als Zeit Online ihn 2008 anwirbt, um über den Finanzmarkt zu bloggen. Und er bleibt DKP-Mitglied, als 1989 die starre Welt der Systemkämpfe zusammenbricht und als sich 2007 mit der Linken eine weniger orthodoxe Alternative für sozialistische Politik bildet.

Ob seine Chefredakteure und Kollegen von seiner Parteimitgliedschaft wussten? "Natürlich nicht. Sonst hätte ich all diese Jobs nicht bekommen."

Hat Lucas Zeise also 40 Jahre lang gelogen? Die Frage irritiert ihn. "Auch als Kommunist ist man von Lohnarbeit abhängig. Diese Trennung zwischen Beruf und Privatem ist bei mir vielleicht besonders krass, aber nicht so ungewöhnlich. Es legt doch jeder als erstes den Schlips ab, wenn er nach Hause kommt." 2007 geht Zeise mit 63 Jahren in Rente. Da beginnt die Finanzkrise. Zeise sagt, er war "elektrisiert". Die Fehler des Systems, über die er seit Jahren schreibt, werden offensichtlich. In seinem 2010 erschienen Buch "Geld. Der vertrackte Kern des Kapitalismus" fordert er, der Staat müsse den Finanzmarkt deutlich stärker kontrollieren. Parallel schreibt er für die marxistisch orientierte Tageszeitung Junge Welt. Schließlich fragt ihn der DKP-Parteivorsitz, ob er nicht kandidieren wolle. Listenplatz vier von 35. Hat er gezögert? "Eine Minute. Aber es gab keine Gründe mehr, die dagegen sprachen. Wir wollen den Wahlkampf als Bühne nutzen."

An diesem Samstag vor der Frankfurter Hauptwache, haben Jesus und Tiere deutlich mehr Anhänger als der Kommunismus. Polizisten fungieren als Demo-Lotsen. Menschen für Jesus und gegen Abtreibung nach links. Menschen für Hunde und gegen Straßenhund-Erschießer ein paar Schritt zurück. Und alle, die nur gekommen sind, um vor dem großen Kaufhaus Spargel schälen zu lassen, rücken bitte ein wenig zusammen. Die 25 Menschen mit ihren roten Fahnen werden erst wahrgenommen, als sie per Lautsprecher verkünden, dass das "Internationale System der Banken zerstört werden muss." Ein Tierfreund brüllt "Fickt euch!" herüber. Zeise steht ein wenig abseits. "Das ist schon peinlich." Er meint nicht die Tierschützer. Er meint seine spärlich besetzte Minidemo.

Geht es um Macht, Eitelkeit - oder Idealismus?

Doch nicht nur Demonstrieren kann frustrieren, sondern auch der politische Alltag in der EU. Rolf-Dieter Krause leitet seit mehr als zehn Jahren das ARD-Studio in Brüssel und hat immer mal wieder Journalisten beim Wechsel in die Politik beobachtet. "Ich glaube, dass sich viele Journalisten eine falsche Vorstellung davon machen, was in der Politik passiert", sagt er. "Ich fürchte, dass politische Entscheidungsprozesse manchmal viel weniger gut fundiert sind, als wir von außen denken." Ist es eigentlich die Medienkrise, die Journalisten in die Politik treibt? "Der Arbeitsmarkt für Journalisten ist natürlich wirklich nicht mehr so toll, aber die meisten gehen dann eher in die PR oder Lobby-Arbeit als in die Politik." Wenn es nicht allein um Geld geht, dann um Macht, Eitelkeit oder vielleicht doch um Idealismus?

Wolf Achim Wiegand, auf Platz zwei der EU-Kandidaten-Liste der Freien Wählern, hat den Wechsel vom Journalismus in die PR schon hinter sich. Nun zieht es ihn in die Politik. "Als Bürger, nicht als Journalist." Wie Zeise hat auch er journalistisch Karriere gemacht. Hauptstadt-Korrespondent für Sat 1, Nachrichtenchef Radio Hamburg, schließlich Fernsehchefredakteur bei der Filmproduktionsfirma Studio Hamburg. Seit 1996 arbeitet der 60-Jährige als Medientrainer für Unternehmen.

Kollektiver Wahn

Jetzt geht es ihm darum, "Entscheidungen zu beeinflussen, die Tragweite haben". 2010 setzte er sich mit der Bürgerinitiative "Wir wollen lernen" gegen die schwarz-grüne Schulpolitik in Hamburg ein. Nun will er Europapolitik machen: "Dort werden Gesetze gemacht, die uns alle betreffen." Dass sich dennoch wenig Menschen für EU-Themen interessieren, hat er schon als Journalist gelernt. "Damit sich das ändert, brauchen wir keine bessere PR für die EU, sondern müssen die Politik so ändern, dass sie für die Bürger transparenter wird." Politiker und Journalist sei für ihn im Kern das selbe. Erst werde ein komplexer Zusammenhang vereinfacht, dann werde die Idee verkauft. Mit Ideologie soll Politik für Wiegand nichts zu tun haben. "Ich entscheide pragmatisch von Projekt zu Projekt. Mal hat die Linke einen guten Vorschlag, mal die CDU." Für so eine Herangehensweise ist das EU-Parlament ein guter Ort. Brüssel-Profi Krause sagt: "Im Europäischen Parlament hat man als einzelner Abgeordneter relativ viel Einfluss."

Mit den etwa 0,6 Prozent Wählerstimmen, die für einen Parlamentseinzug nötig sind, rechnen Zeise und Genossen ohnehin nicht. Hier in Frankfurt werden sie gerade von der Polizei aufgefordert, weiterzugehen, die Tierfreunde sind dran. Im Weggehen lässt Zeise sich noch von den Christen Flyer geben. "Sehr interessant. Vielen Dank." Wenn es einen Politikerwettstreit in Sachen Höflichkeit gäbe, würde Zeise gewinnen. Um ihn zornig zu erleben, muss man ihn lesen. "Sind Politiker und Journalisten dem kollektiven Wahn verfallen?" schreibt er 2012 in der Financial Times, sie würden sich "wie Masochisten" dem Urteil der Ratingagenturen ausliefern. Er habe oft Leserbriefe von Bankern bekommen, sagt er. "Die wissen, dass das System krisenhaft ist und fühlen sich entlastet, wenn das jemand ehrlich aufschreibt."

Hier ist eh alles Satire

Zeise quetscht sich gerade an den Spargelstand-Massen vorbei, als das Skandieren losgeht: "DKP enteignen, DKP enteignen!" Gegenüber vom Spargel ist der Infostand der PARTEI, heute zwar ohne Spitzenkandidat Martin Sonneborn, aber auf jedes Ereignis gut vorbereitet. Gleich werden sie sich vor einen CDU-Stand stellen und "Merkel ist dick!" rufen. Vorher wird noch die DKP verhöhnt. Und Lucas Zeise wacht auf. "Juhu!" - linke Faust in die Luft! "DKP enteignen! Großartig!" Zeise ist PARTEI-Fan. Dass 2013 deutlich mehr Journalisten für das Europa-Parlament kandidieren als 2009, liegt übrigens auch daran, dass die PARTEI als Partei zugelassen wurde. Von 71 Kandidaten sind sieben Journalisten. Sonneborn selbst war Chefredakteur der Titanic und übertrug das Motto "Alles ist Satire" vom Blatt in die Partei. Immerhin sind die ehrlich, findet Zeise.

Während er von der PARTEI als "aufklärerisch" schwärmt, erzählt er, dass ihm seine eigenen Texte immer dann gefallen haben, wenn sie ironisch waren. Als er vorhin bei einer Zwischenkundgebung vor der Europäischen Zentralbank eine Rede hielt, begann er sie mit den Worten: "Liebe Genossen, schön, dass ihr so zahlreich erschienen seid." Zeise wartete, nichts passierte. Im Klassenkampf wird selten gelacht.

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