Josep Borrell:"Müssen aufpassen, dass Schengen nicht zusammenbricht"

Josep Borrell: Der Katalane Josep Borrell ist seit Anfang Juni spanischer Außenminister: "In Katalonien haben wir die ersten Akte offenen Widerstands gegen die Staatsgewalt erlebt."

Der Katalane Josep Borrell ist seit Anfang Juni spanischer Außenminister: "In Katalonien haben wir die ersten Akte offenen Widerstands gegen die Staatsgewalt erlebt."

(Foto: Javier Soriano/AFP)

Der spanische Außenminister erklärt, warum sein Land das Flüchtlingsschiff "Aquarius" aufgenommen hat - und beklagt, dass Europa in der Migrationspolitik nicht das Hirn einschaltet.

Interview von Thomas Urban, Madrid

Der Ingenieur für Luftfahrttechnik und Volkswirt Josep Borrell, 71, war unter dem sozialistischen Premier Felipe González in den 90er Jahren Infrastruktur- und Umweltminister. Von 2004 bis 2007 war er Präsident des Europäischen Parlaments. Seit Anfang Juni ist der Katalane Außenminister Spaniens.

SZ: Die neue spanische Regierung hat mit ihrer Entscheidung Aufsehen erregt, mehr als 600 in Seenot geratene afrikanische Migranten aufzunehmen, denen Italien das Anlaufen seiner Häfen nicht erlaubt hat. Wer hat nun in dem Konflikt gewonnen, Rom oder Madrid?

Josep Borrell: Es ist ein Sieg für die Menschen auf dem Rettungsschiff Aquarius. Was Italien angeht, so ist offensichtlich, dass die Wähler einer neuen Regierung das Mandat gegeben haben, die die massenhafte Immigration unterbinden möchte. Ich teile nicht deren Haltung im aktuellen Fall, aber das Ergebnis der Wahlen müssen wir erst einmal akzeptieren.

Was folgt aus dem Konflikt um die "Aquarius"?

Die Migration über die zentrale Mittelmeerroute ist keineswegs nur ein Problem Italiens, die Sicherung der Außengrenzen der EU ist unsere gemeinsame Aufgabe. Es kann jederzeit wieder zu einem großen Ansturm kommen. Wer weiß, ob nicht in einem Jahr der Anlaufpunkt für die afrikanischen Migranten die Kanarischen Inseln sein werden?

Welche Maßnahmen schlagen Sie vor?

Wir müssen in den Ländern der EU rasch zu einem Konzept kommen, wie wir einheitlich das Problem der Massenmigration angehen. Bisher haben viele Politiker in Europa eine Vogel-Strauß-Politik vorgezogen. Doch man muss sich nur die Geburtenraten in Afrika anschauen, um zu sehen, welch riesiges Problem da auf uns zukommt. Wir müssen aufpassen, dass das Schengen-System, der Verzicht auf Grenzkontrollen innerhalb der EU, nicht zusammenbricht. Wir müssen uns auf eine konsequente Politik der Rückführung verständigen, die diejenigen betrifft, die nicht das Bleiberecht bekommen, und wir müssen die wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern Afrikas wirkungsvoll unterstützen.

Wie kann das geschehen?

Entwicklungshilfe ist ein überaus komplexes Problem. Viele junge Leute, die dank der Hilfe von außen eine bessere Ausbildung erhalten, wollen ihre Länder verlassen. Ich habe kürzlich im Senegal mit hohen Politikern, Universitätsprofessoren, Bürgermeistern, Stammeshäuptlingen gesprochen. Sie sagen, dass die Appelle an die Menschen, doch besser zu Hause zu bleiben, nicht gehört werden. Jeden Tag präsentieren ihnen die Medien dieses reiche Europa, Europa ist ein Magnet.

Ein Großteil der Migranten strebt nach Europa, nicht um ihr Leben zu retten oder politischer Repression zu entfliehen, sondern weil sie darauf hoffen, ihre wirtschaftliche Lage verbessern zu können. Es sind nicht die Schwächsten und Ärmsten, die sich auf den Weg machen, sondern Menschen, die energisch sind - und die dann ihren Heimatländern fehlen. Wir können hier nicht nur nach dem Herzen handeln, sondern müssen auch das Gehirn einschalten.

"Offener Widerstand gegen die Staatsgewalt in Katalonien"

Das größte Problem Madrids aber stellt heute Katalonien dar. Sie sind Katalane und haben sich stark auf der Seite der Gegner der Unabhängigkeit der Region engagiert.

Die Motive der Verfechter der Unabhängigkeit sind sehr unterschiedlich: Da gibt es emotionalen Protest gegen Madrid ebenso wie die Hoffnung, die Unabhängigkeit würde alle Probleme der Region lösen und zu höherem Wohlstand führen. Manche hoffen, so die Gesellschaft radikal umgestalten und das kapitalistische System abschaffen zu können. Doch die Regionalwahlen haben ja gezeigt, dass all diese Gruppen keine Mehrheit in der Bevölkerung Kataloniens haben.

Allerdings hat die Politik der nun abgelösten konservativen Regierung in Madrid zu einer Verhärtung der Fronten geführt.

In Katalonien haben wir die ersten Akte offenen Widerstands gegen die Staatsgewalt erlebt. Es ging ja so weit, dass Verfechter der katalanischen Unabhängigkeit in Barcelona eine Tagung über den großen Schriftsteller Miguel Cervantes blockieren wollten. Wir müssen also erst einmal die Spannungen abbauen.

Die Führung in Barcelona erklärt, sie habe ein Mandat, den Weg zur staatlichen Unabhängigkeit fortzusetzen.

Dieses Mandat hat sie eben nicht, weil sie keine Mehrheit der Bevölkerung dafür hat. Im Übrigen erlauben auch Staaten wie Italien, Frankreich oder Deutschland nicht die Abspaltung einer Region. Spanien ein demokratisches Defizit vorzuwerfen, ist also gänzlich unbegründet. Die spanische Demokratie hat in den vergangenen drei Jahren einen gewaltigen Stresstest bestanden: Parlamentswahlen, nach gescheiterter Regierungsbildung Neuwahlen, ein Minderheitskabinett in Madrid, die Absetzung der Regionalregierung in Barcelona wegen Verfassungsbruchs, nun in Madrid die Ablösung der Regierung durch ein erfolgreiches Misstrauensvotum. Bei allen Schwierigkeiten hat sich gezeigt, dass die demokratischen Mechanismen funktionieren.

Welche Chancen sehen Sie für eine Entspannung im Katalonien-Konflikt?

Es ist schon ein guter Schritt, dass nun beide Seiten ihre Bereitschaft zu einem Dialog ohne Vorbedingungen bekunden. Klar aber ist, dass die spanische Verfassung respektiert werden muss. Eine einseitige Unabhängigkeitserklärung, wie sie das katalanische Parlament mit knapper Mehrheit im vergangenen Oktober gebilligt hat, wäre auch in jedem anderen Staat der EU nicht hingenommen worden. Natürlich musste dies politische und juristische Konsequenzen haben.

Damit wären wir beim abgesetzten katalanischen Premier Carles Puigdemont, der sich in Deutschland aufhält und dessen Auslieferung die spanische Justiz verlangt.

Die deutsche Justiz muss überprüfen, ob die Straftaten, die Puigdemont vorgeworfen werden, eine Entsprechung im deutschen Strafrecht haben. Das Verfahren bewegt sich in einer Grauzone, denn es hat sich gezeigt, dass sogar die deutschen Staatsanwälte und die Richter, die mit der Causa befasst sind, unterschiedliche Auffassungen dazu vertreten. Die spanische Regierung akzeptiert selbstverständlich jede Entscheidung der deutschen Justiz.

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