Joschka Fischers Europa-Vision:Das drohende Fiasko

Former German foreign minister Joschka Fischer gestures during an interview with Reuters in Berlin

Amtierte als Bundesaußenminister und Stellvertreter des Bundeskanzlers von 1998 und 2005: Der Grüne Joschka Fischer, hier im Oktober 2014

(Foto: REUTERS)

Joschka Fischer plädiert für die Vereinigten Staaten von Europa - allerdings nach dem Schweizer Modell. Wie es dazu kommen soll, erklärt der Grüne auch. Ob er damit überzeugen kann?

Von Günter Verheugen

Zu den am meisten abgenutzten Begriffen gehört das Wort Strategie. Wenn einer politischen Aktion Nachdenken zugrunde liegt, und es sich nicht um eine bloße Reaktion handelt, muss in der Regel das Wort "Strategie" herhalten, um etwas ganz Alltägliches sprachlich zu veredeln.

Umso erfreuter ist man deshalb, wenn man auf einen Text stößt, der den Autor als einen echten strategischen Denker ausweist. Das ist der Fall bei Joschka Fischers neuem Buch. Ich gestehe, dass ich es mit gemischten Gefühlen in die Hand genommen habe. "Scheitert Europa?" Der Titel legt den Verdacht nahe, dass sich wieder einmal einer unserer politischen Altvorderen als Kassandra versucht. Aber dem ist nicht so. Die Frage ist ernst gemeint, und sie wird ernsthaft beantwortet.

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Ja, das Scheitern des europäischen Einigungswerks ist eine realistische Möglichkeit geworden, aber nicht unabwendbar. Das Scheitern kann sich in verschiedener Form einstellen: als Dahinsiechen, wenn sich die Politik des Durchwurstelns ("Fahren auf Sicht" in der Sprache der Kanzlerin) fortsetzt; Implosion, wenn die Fliehkräfte der Renationalisierung noch stärker werden; Kollaps, wenn die europäischen Bürger einfach nicht mehr mitmachen wollen. Joschka Fischer nimmt einen langen Anlauf, um schließlich zu einem etwas komplizierten Vorschlag zu kommen, wie das Projekt der europäischen Integration wieder in Bewegung gesetzt werden kann. Zuerst aber leistet er notwendige Aufklärungsarbeit.

Umgetrieben von Deutschlands Rolle in Europa

Was ist das für eine Krise, in der wir uns seit 2008 bewegen wie der Hamster im Laufrad? Fischer glaubt, dass es den Akteuren der Krisenbewältigung schlicht an Weitsicht und Mut gefehlt habe, die Legitimationsprobleme der EU und die Konstruktionsfehler der Währungsunion mit einem Mehr an Gemeinschaft und Solidarität anzugehen. Es ist ihm leider zuzustimmen, wenn er die Gründe dafür in egoistischen, innenpolitischen Kalkülen sieht und wohl auch in einem Mangel an Geschichtsverständnis. Klar, dass Fischer die der EU aufgezwungene deutsche Austeritätspolitik verantwortlich macht für die sich abzeichnende ökonomische Spirale nach unten und auch für das Auseinanderdriften der Realwirtschaften und die daraus resultierenden antieuropäischen Emotionen.

Deutschlands Rolle in der EU treibt Fischer um. Das Land ist in der EU die Führungsmacht geworden, ohne es zu wollen und ohne darauf vorbereitet zu sein. Entgegen allen gegenteiligen Spekulationen ist Fischer überzeugt, dass Deutschland die Gemeinschaftswährung (für Fischer ein rein politisch begründetes, ökonomisch nicht zwingendes Projekt - da möchte man doch ein Fragezeichen setzen) nicht aufgeben könnte. Er sagt es nicht ganz explizit, aber es ist eindeutig, dass Fischer von Deutschland die Fähigkeit verlangt, mit anderen zu teilen.

Fischer sieht sich als europäischer Föderalist. Wie schon in seinem zweiten Memoirenband fordert er die Schaffung eines europäischen Bundesstaats. Er hat dafür eine doppelte Begründung: Der hybride Charakter der EU wird die Legitimitätsprobleme immer größer werden lassen; und die Welt von morgen wird über die EU hinweggehen, wenn sie sich nicht zu einem außenpolitischen Akteur mit allen dazugehörigen Attributen entwickelt.

Fischers Ziel: Die Vereinigten Staaten von Europa

Die strategischen Kalamitäten, denen die EU entgegentaumelt, ergeben sich aus der neuen globalen Machtverteilung. Mit Fischers Analyse, auch im Hinblick auf die mittelfristige Neuorientierung der USA, bin ich ganz einverstanden. Widerspruch ist für mich (aber das ist meine subjektive Sicht) notwendig, wo es um Putin und Russland geht.

Joschka Fischers Europa-Vision: Joschka Fischer: Scheitert Europa? Kiepenheuer und Witsch, 2014. 160 Seiten, 17,99 Euro.

Joschka Fischer: Scheitert Europa? Kiepenheuer und Witsch, 2014. 160 Seiten, 17,99 Euro.

Hier ist Fischer sehr apodiktisch: Russland ist erneut auf Ausdehnung seines Machtbereichs aus und schreckt dabei vor Rechtsbruch und Gewaltanwendung nicht zurück. Da wäre doch aber zu fragen, ob unserer Politik in den vergangenen zwanzig Jahre nicht die gesamteuropäische Perspektive gefehlt hat und ob Russland nicht Gründe hat anzunehmen, dass die strategische Partnerschaft zwischen der EU und Russland nicht wirklich ernst gemeint war.

Fischer schiebt die Verantwortung für die Ukraine-Krise Putin zu. Die Fehleinschätzungen und Stümpereien auf der Seite der EU lässt er gnädig beiseite. Es ist richtig, dass das Recht jedes europäischen Staates, souverän darüber zu entscheiden, ob er Teil des EU-integrierten Europa werden will oder nicht, ein unverhandelbares Prinzip ist. Aber richtig ist sicher auch, dass man sich dabei um einen Interessenausgleich mit denjenigen bemühen muss, deren Interessen man berührt.

Wie sind nun die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen, die Fischer für zwingend hält? Nicht als amerikanische Präsidialdemokratie, sondern eher orientiert am Schweizer Modell. Nun gut.

Nicht mit den 28 oder mehr, die wir vielleicht demnächst sein werden, sondern im ersten Schritt als zwischenstaatlicher Vertrag (das ist der EU-Vertrag aber auch!) der Euro-Teilnehmer mit eigenem Parlament (aber nicht direkt gewählt, sondern aus Delegierten der nationalen Parlamente bestehend) und den Staats- und Regierungschefs der Euro-Gruppe als Regierung, und das Ganze auf der Grundlage eines weitreichenden Souveränitätsverzichts, gestützt auf eine starke basisdemokratische Legitimation. Nicht ganz klar wird, warum ein solcher Vertrag größere Chancen hätte als ein neuer EU-Vertrag.

Fischer meint, dass wir uns auf eine EU mit unterschiedlicher Dichte der Integration einstellen sollten; aber wünschenswert - das sagt Fischer auch - ist das nicht. Ganz sicher ist auch richtig, dass Deutschland und Frankreich dabei vorangehen müssen, allerdings ist das nur eine notwendige, jedoch nicht eine hinreichende Bedingung. Erfüllbar wäre sie ohnehin nicht mit dem derzeitigen Führungspersonal in beiden Staaten - das sieht auch Fischer so.

Ich hätte mir Fischers konzeptionellen Entwurf etwas detaillierter gewünscht, aber vermutlich ging es ihm jetzt erst einmal darum nachzuweisen, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, dass eine neue europäische Vision notwendig ist.

Günter Verheugen war als EU-Kommissar für die Osterweiterung zuständig und dann, bis 2010, Vizepräsident und Kommissar für Unternehmen und Industrie. Heute lehrt er als Honorarprofessor an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder).

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