Jo Leinen:"Atomenergie ist wie ein Flugzeug ohne Landebahn"

Jo Leinen war in den frühen achtziger Jahren eines der bekanntesten Gesichter der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung. Er sieht Deutschland an einer energiepolitischen Wegscheide und fordert im Gespräch mit sueddeutsche.de eine neue Endlagersuche - über Deutschlands Grenzen hinaus.

Bernd Oswald

Jo Leinen, 60, ist seit 1999 SPD-Abgeordneter im Europaparlament. In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren machte er sich einen Namen als Vorstandssprecher des Bundesverbandes der Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) und wurde zu einem der bekanntesten Gesichter der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung. Von 1985 bis 1994 war er Umweltminister des Saarlandes, seit 1995 gehört er dem Vorstand von Eurosolar Deutschland an, einer Vereinigung, die sich zum Ziel gesetzt hat, atomare und fossile Energie vollständig durch erneuerbare Energien zu ersetzen.

Jo Leinen: Jo Leinen fordert eine neue Suche für ein Atommüllendlager.

Jo Leinen fordert eine neue Suche für ein Atommüllendlager.

(Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Herr Leinen, am Wochenende haben in Gorleben 15.000 Menschen gegen den nahenden Castor-Transport demonstriert. Der Sprecher einer Bürgerinitiative sprach gar von der "Renaissance der Anti-Atom-Bewegung". Sehen Sie als einer der Mitbegründer der Anti-Atomkraft-Bewegung in den späten siebziger Jahren das auch so?

Jo Leinen: Die Menschen spüren, dass wir an einer Wegscheide sind. Entweder zurück in die Atomkraft oder voran in das Solarzeitalter. Von daher schwillt der Protest auch wieder an, weil die Atomlobby auch verstärkte Anstrengungen macht, die Laufzeiten zu verlängern oder - wenn es ginge - sogar neue Atomkraftwerke zu bauen. Der Protest ist ein Reflex auf den spürbaren Druck der Atomwirtschaft auf die Politik, den Atomausstiegsbeschluss wieder rückgängig zu machen.

sueddeutsche.de: In der EU bildet sich eine Phalanx von Staaten, die den europäischen Energie-Zug wieder auf die Atomkraft-Schiene lenken wollen. Hat der Protest deutscher Bürgerrechtsgruppen da auch nur eine geringe Chance?

Leinen: In Deutschland werden seit 25 Jahren keine Atomkraftwerke mehr gebaut, die Plutonium-Wirtschaft ist auch verhindert worden, der Protest war also schon erfolgreich. Deutschland ist mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz auf der richtigen Spur und kopiert nicht die Verzweiflungstat einiger Länder, vielleicht doch noch Atomkraftwerke zu bauen, weil sie bei den erneuerbaren Energien geschlafen haben und keine richtige Politik entwickelt haben, Energie einzusparen.

sueddeutsche.de: Die Energiepolitik ist innerhalb der Bundesregierung sehr umstritten. Die SPD hält am Atomausstieg fest, die CDU erklärt ganz klar, sie will Atomkraft und den Ausstieg vom Ausstieg. Kommendes Jahr könnte es durchaus eine CDU-FDP-Bundesregierung geben. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Atomausstieg wieder rückgängig gemacht wird?

Leinen: Es gibt in der Bevölkerung eindeutig keine Mehrheit für den Wiedereinstieg in die Atomenergie. Ob das politisch durchsetzbar ist, wage ich zu bezweifeln. Auch eine bürgerliche Koalition würde sich sehr schwer tun, in Deutschland neue Standorte für Atomanlagen auszuweisen. Sie würde eher jenseits der deutschen Grenzen Stimmungsmache betreiben, damit Atomkraftwerke im Ausland gebaut werden. In Deutschland sehe ich das nicht.

sueddeutsche.de: Warum ignoriert die Politik den massiven Protest der Bevölkerung und setzt die Transporte nach Gorleben durch?

Leinen: Irgendwann und irgendwo muss der Atommüll, der in all den Jahrzehnten produziert wurde, entsorgt werden. Der eigentliche Skandal ist doch, dass Atomkraftwerke weiter laufen, fortwährend Müll produzieren und die Entsorgung unklar ist. Das Abenteuer Atomenergie ist, als ob man ein Flugzeug startet, aber keine Landebahn hat. Die Leute merken, dass Gorleben kein wissenschaftlicher Standort war, sondern die damalige niedersächsische Landesregierung (Anm. d. Red.: unter Ministerpräsident Ernst Albrecht, CDU) 1977 aus politischen Gründen die etwas verlassene Ecke an der deutsch-deutschen Grenze als Standort gewählt hat.

sueddeutsche.de: Brauchen wir in Deutschland ein neues Endlager-Auswahlverfahren nach festen Kriterien, wie es Umweltminister Gabriel fordert?

Leinen: Wir haben natürlich viel Zeit verloren, die Unklarheit in den wechselnden Bundesregierungen hat dazu beigetragen. Man muss nach Alternativen suchen, sowohl im Salz als auch in anderen geologischen Formationen. Das ist seinerzeit nicht gemacht worden. Es wurde damals einseitig auf Salz gesetzt und dann noch in einer Hauruck-Entscheidung auf Gorleben. Dieses Gebäude ist auf Sand gebaut und wackelt, wie man spüren kann.

sueddeutsche.de: Könnte durch so eine Neuausschreibung mehr Akzeptanz für ein Endlager erreicht werden? Proteste gäbe es vermutlich überall, denn wer will schon Atommüll vor seiner Tür haben?

Leinen: Ich bin zuversichtlich, dass die große Mehrheit der Menschen einsieht, dass der Atommüll entsorgt werden muss. Wichtig wäre ein vertauensbildendes, offenes Verfahren ohne Geheimnisse, ohne Hintergedanken. Die Kritiker der Atomenergie sollten in dieses Verfahren einbezogen werden, weil wir über die Lagerorte für den bereits produzierten Atommüll einen nationalen Konsens brauchen.

Lesen Sie auf Seite zwei, wie Leinen die Entwicklung der Anti-Atomkraft-Protestkultur sieht und was die EU in der Endlagerfrage tun sollte.

"Atomenergie ist wie ein Flugzeug ohne Landebahn"

sueddeutsche.de: Greenpeace fordert, dass die Atommülltransporte so lange ausgesetzt werden, bis die Endlagerfrage geklärt ist. Halten Sie das für realistisch?

Leinen: Ich halte das nicht für realistisch, weil Deutschland mit Frankreich einen völkerrechtlichen Vertrag abgeschlossen hat, der vorsieht, dass Deutschland den wiederaufbereiteten Atommüll wieder zurücknehmen muss. Wenn dieser Vertrag gebrochen werden würde, bliebe der Atommüll gleich in Deutschland: ungesichert oder nicht so gut gesichert in der Nähe der Atomkraftwerke. Das ist also auch keine Lösung.

sueddeutsche.de: Kommen wir noch mal zum Protest zurück. Demonstranten ketten sich an Gleise, verkeilen ihre Traktoren ineinander, verkleiden sich als Clowns. Wenn Sie das mit den späten siebziger und frühen achtziger Jahren vergleichen: Wie hat sich die Protestkultur verändert und wie bewerten Sie das?

Leinen: Sie hat sich eindeutig weiterentwickelt, ist wesentlich phantasiereicher und damit auch sympathischer geworden. Wichtig bleibt der Grundsatz der Gewaltfreiheit, sowohl gegen Personen als auch gegenüber fremden Sachen. Ich weiß, dass es hier Grenzfälle gibt. So lange es aber bei Sitzblockaden bleibt, ist das eine Form des Widerstands, die ein demokratischer Staat wie Deutschland aushalten und verarbeiten muss.

sueddeutsche.de: Ganz ohne Gewalt geht es bei keinem der Castor-Proteste zu. Jetzt haben ein paar Atomkraftgegner Polizisten mit Feuerwerksraketen attackiert, die Polizei antwortete mit Schlagstöcken.

Leinen: Die Protestierenden sollten alles daran setzen, eine Spirale der Gewalt zu vermeiden. Sonst können sie nur verlieren. Der Staat hat das Gewaltmonopol und ist auch stärker als Atomkraftgegner. Die Proteste der siebziger und frühen achtziger Jahre haben gezeigt, dass ein gewaltsamer Anti-Atomkraft-Protest im Nichts verläuft oder in einer Radikalisierung, die nichts bringt. Im Wendland hat die Bevölkerung eine große Erfahrung mit dem Anti-Atomkraft-Protest. Dort gibt es zum ganz, ganz großen Teil phantasiereiche Aktionsformen, die auch Widerhall in der Öffentlichkeit finden.

sueddeutsche.de: Es fällt auf, dass bei den Protesten am Wochenende fast die komplette Grünen-Spitze verteten war. Beunruhigt Sie das aus SPD-Sicht?

Leinen: Die Grünen haben bei der aktuellen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise ein bisschen Angst, nicht mehr vorzukommen. Von daher kann ich verstehen, dass sie diese Chance jetzt nutzen. Das ist ja auch ihr erstes Thema. Mich beunruhigt das nicht, ich würde mir aber wünschen, dass da auch wieder Sozialdemokraten auftauchen, weil die Grünen alleine werden das nicht schaffen.

sueddeutsche.de: Müsste der internationalen Atomenergie-Koalition nicht auch eine internationalisierte Atomenergie-Opposition entgegentreten?

Leinen: Da waren wir in den siebziger Jahren weiter. Da gab es einen Flächenbrand durch Westeuropa. In den kommunistischen Staaten Osteuropas war der Protest ja nicht erlaubt. Es gibt die Netzwerke nach wie vor, wobei der Protest gegen Endlager nach wie vor einen nationalen Charakter hat. Das mag falsch sein. Als Europaabgeordneter meine ich, dass wir eine Lösung in der Europäischen Union brauchen, damit nicht jedes Land für sich mühsam Endlagerstätten sucht und vielleicht zu Hause keine findet.

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