Jerusalem-Tagebuch:Heiliger geht's nicht

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Mitten in der seit ewigen Zeiten umkämpften Stadt liegt der Tempelberg - für Muslime wie Juden ein herausragender Ort ihres Glaubens. Doch nicht alle können hier beten.

Von Peter Münch

Jerusalem, die Stadt des Friedens, ist umkämpft seit ewigen Zeiten. In der Woche vor dem Oster- und dem Pessachfest zeigen die Fotografin Alessandra Schellnegger und SZ-Korrespondent Peter Münch in einem Tagebuch, wie in dieser gelebt, gebetet, gefeiert wird. Die fünfte und letzte Folge spielt am Tempelberg.

Es herrscht träge Morgenstimmung an diesem Ort, der dem Himmel so nah ist. Über allem strahlt die goldene Kuppel des Felsendoms, zwischen den mächtigen Säulen der Al-Aksa-Moschee verlieren sich ein paar ins Gebet versunkene Männer. Kleine Gruppen verschleierter Frauen sitzen draußen auf Plastikstühlen in der wärmenden Sonne, still lesen sie im Koran. Kinder spielen in einem Sandhaufen, junge Burschen mit Gel im Haar schlendern schwatzend umher. Und dann kommt der Alarm, laut und schrill - und alles ist in Aufruhr.

"Allahu akbar", rufen mit Sirenenstimme die Frauen, die mit wehenden Gewändern zusammenlaufen und das Gotteslob zum Schlachtruf machen. "Mit unseren Seelen und unserem Blut werden wir al-Aksa verteidigen", skandieren die Burschen. Das Ziel ihrer Wut ist ein Trupp jüdischer Jugendlicher, die eskortiert von zwei schwer bewaffneten israelischen Polizisten durchs Areal geführt werden. Mittendrin ist Ariel Minkov, 19 Jahre, blond und blass. In tiefster Dunkelheit noch ist er mit den Freunden aus seiner jüdischen Religionsschule in Haifa aufgebrochen zur Wallfahrt nach Jerusalem. "So oft wie möglich versuche ich, hierher zu kommen", sagt er. Doch nun steht er da wie angewurzelt, höchst angestrengt um Andacht ringend, doch der große Tag kulminiert im Chaos. Es war nicht anders zu erwarten.

Was für ein Ort: So gepriesen und so umkämpft, hier prallen die Religionen aufeinander in Gebeten und Gefechten, und der Streit fängt schon beim Namen an. Für Juden ist dies der Tempelberg, hier hatte vor 3000 Jahren König Salomo den ersten Tempel errichtet und Herodes später jenen zweiten prachtvoll ausstaffiert, den 70 nach Christus die Römer zerstörten. Doch schon viel früher hatte hier alles begonnen: Als Gott an dieser Stelle die Erde entnahm, aus der er Adam formte. Als Abraham hier auf Gottes Geheiß fast seinen Sohn Isaac opferte. Heiliger geht's nicht.

Für die Muslime aber ist dies nicht der Tempelberg, sondern der Haram al-Scharif, das "erhabene Heiligtum". Hier wurde im 7. Jahrhundert der Felsendom über jener Stelle errichtet, von der aus der Prophet Mohammed seine Himmelsreise antrat. Und neben diesem ältesten Sakralbauwerk des Islam steht die Al-Aksa-Moschee, die gleich nach Mekka und Medina auf dem dritten Platz der heiligen islamischen Stätten steht. Dass Kaiser Justinian auf dem Felsplateau um 530 herum auch noch eine bald wieder zerstörte Marienkirche hatte errichten lassen und die Kreuzfahrer im 12. Jahrhundert den Felsendom zur Kapelle umfunktionierten, taugt in diesem hochheilig überladenen Kontext höchstens noch zur Fußnote.

"Mit unseren Seelen und unserem Blut werden wir al-Aksa verteidigen", skandieren Palästinenser, als jüdische Jugendliche mit Polizeieskorte zum Beten an den Tempelberg kommen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Fest steht jedenfalls, dass hier schon alle gebetet haben - zum selben Gott, und mit dem gleichen verheerenden Anspruch auf Exklusivität. Der Glaube hat sich auf diesem Felsen zum Faktum verhärtet, und solche Fakten sind heute das Futter für die Fundamentalisten aller Seiten. Der Tempelberg alias Haram al-Scharif ist so zum Epizentrum der weltweit ausgebrochenen Glaubenskämpfe geworden, ein längst schon blutgetränkter Platz, an dem sich jederzeit ein Religionskrieg entzünden kann.

Tag für Tag sind heute schon die Vorgefechte zu beobachten, erbittert gekämpft wird um jeden Zentimeter Boden. Dabei ist auf dem Papier längst alles geklärt: Auch wenn der israelische Staat die volle Souveränität über Jerusalem beansprucht, liegt die Zuständigkeit für den Tempelberg beim jordanischen König und der muslimischen Waqf-Stiftung. Nur Muslimen ist hier das Gebet erlaubt, alle anderen haben Zugang nur zu festgelegten Besuchszeiten. Dieser Regelung haben alle israelischen Regierungen ebenso zugestimmt wie die Chefrabbiner, die sogar eigens ein Warnschild haben anbringen lassen am Besuchereingang: "Laut Torah-Recht ist es wegen der Heiligkeit dieses Ortes strikt verboten, den Tempelberg zu betreten." Der Grund: Weil niemand mehr weiß, wo genau auf dem Areal das jüdische Allerheiligste mit der Bundeslade war, besteht die Gefahr, dass dieser den Hohepriestern vorbehaltene Ort versehentlich durchquert und entweiht wird.

Dem Warnschild zum Trotz aber steht nun Ariel Minkov mit seinen Freunden hier oben, und unten am Eingang stehen noch hundert andere mit Kippa und Schläfenlocken, die laut singend und tanzend auf Einlass warten. Sie fühlen sich nicht gebunden ans Verbot, es drängt sie zum Gebet am heiligen Ort - und angeleitet werden sie dabei von einem Mann mit feuerrotem Bart und Schopf, der auf die Moses-Masche zum neuzeitlichen Helden geworden ist und seinem Volk die Rückkehr auf den gelobten Berg verheißt.

Rabbi Jehuda Glick heißt dieser Mann, er stürmt überraschend schnellen Schritts in eine Hotelhalle im jüdischen Westteil Jerusalems, sein Leibwächter kann kaum folgen. Er trägt Sportklamotten, kommt gerade von seiner täglichen Reha-Sitzung, und bei allen Fortschritten sind ihm die Strapazen der letzten Monate doch deutlich anzusehen. "Ich habe mal 105 Kilo gewogen, jetzt sind es noch 75", sagt er. "Aber ich bin glücklich, noch am Leben zu sein. Ich fühle mich gesegnet von Gott und vielen seiner Boten."

Vor fünf Monaten, am 29. Oktober vorigen Jahres, ist Jehuda Glick von einem arabischen Attentäter mitten in Jerusalem mit vier Schüssen niedergestreckt worden. Der Angreifer, der noch in derselben Nacht von der Polizei erschossen wurde, sah sich als Verteidiger der Al-Aksa-Moschee und wollte Rache üben dafür, dass Glick immer wieder jüdische Gruppen auf den Tempelberg geführt hat. "Mehr als tausend Mal war ich schon da", sagt Glick, "und jetzt bin ich noch motivierter als vorher, die Leute davon zu überzeugen, dorthin zu gehen."

"Auf dem Tempelberg", so schwärmt er, "steht man direkt vor Gott, du fühlst seine Präsenz." Er selbst allerdings muss seit dem Attentat den Sehnsuchtsort meiden, die Polizei hat ihn wegen der angespannten Lage mit einem Bann belegt. "Das macht mich sehr traurig", sagt Glick, "statt sich um die Gewalt auf dem Tempelberg zu kümmern, attackiert die Polizei mich." Doch seine Sache sieht er auf einem guten Weg: In der Knesset hat sich bereits eine Gruppe rechter Abgeordneter formiert, die das Verbot zum Tempelberg-Besuch aufheben wollen. Auch immer mehr Rabbiner vor allem aus dem Siedler-Sektor schließen sich der Forderung Glicks an, der die "Religionsfreiheit" propagiert und eine Teilung des Tempelbergs vorschlägt - zumindest solange, bis die Zeit reif ist für den Bau des dritten jüdischen Tempels. "Aber diese Zeit ist noch nicht gekommen", meint er, "das kann in fünf Jahren sein oder in hundert."

Solche mit sanftem Lächeln vorgetragenen Sätze sind es, die einen Mann wie Scheich Mahmud Habbasch sofort auf die Barrikaden bringen. In Ramallah amtiert er als Oberster Scharia-Richter, dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas dient er als "Berater für religiöse und islamische Angelegenheiten". Überdies gehört er dem Rat der Waqf-Stiftung an, der die Heiligtümer auf dem Jerusalemer Haram al-Scharif verwaltet - und wenn es sein muss auch verteidigt. Wie zentral diese Aufgabe ist, daran erinnert in seinem Wohnzimmer ein riesiges Ölgemälde von Felsendom und Al-Aksa-Moschee, unter dem Habbasch seine Besucher empfängt.

"Al-Aksa", so hebt er an, "ist nicht nur eine Moschee, es ist das Tor zum Himmel. Wenn ich dort bin, fühle ich mich vereint mit dem Boden, den Felsen, den Mauern." Die jüdischen Gruppen sieht er als Eindringlinge, als pure Provokation. "Sie kommen nicht als Besucher, sondern als Besitzer", schimpft er, "aber niemand auf der Welt hat dort irgendwelche Rechte außer den Muslimen." Leute wie Rabbi Glick, so glaubt er, würden mit dem Feuer spielen und dabei das Risiko in Kauf nehmen, einen Religionskrieg zu entfachen. "Wenn er ausbricht, kann ihn keiner mehr stoppen", warnt er. "Es gibt 1,5 Milliarden Muslime auf der Welt, und die meisten von ihnen sind bereit, für al-Aksa zu sterben."

All diese Wut, all diese Warnungen hängen wie dunkle Wolken über dem Areal, auf dem auch an diesem Morgen wieder das Gezeter lauter ist als die Gebete. Von allen Seiten sind muslimische Männer, Frauen und Kinder herangestürmt, um die jüdische Besuchergruppe am Rundgang zu hindern. Nach nur zwei Minuten auf dem Tempelberg werden Ariel Minkov und seine Freunde von den zu ihrem Schutz abgestellten Polizisten schon wieder heraus gedrängt aus dem Ausgangstor. In all der Hektik gehen sie langsam und rückwärts, den Blick ehrfürchtig auf eine heilige Stätte gerichtet, deren Mauern schon seit 2000 Jahren hier nicht mehr stehen. "Aber wir bekommen den Tempelberg zurück", sagt Ariel Minkov noch, "mit Gottes Hilfe schon in diesem Jahr."

© SZ vom 04.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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