Jerusalem-Tagebuch:Glaube, Schmerz, Geschäft

Masen Kanaan trägt sein Kreuz: Auf der Via Dolorosa verleiht der fromme Muslim Holzkreuze an christliche Pilger. Tagein, tagaus trägt er sie - allerdings in umgekehrter Richtung, den Berg wieder hinunter.

Jerusalem, die Stadt des Friedens, ist umkämpft seit ewigen Zeiten. In der Woche vor dem Oster- und dem Pessachfest zeigen die Fotografin Alessandra Schellnegger und SZ-Korrespondent Peter Münch in einem Tagebuch, wie in dieser Stadt gelebt, gebetet, gefeiert wird. Die vierte Folge spielt auf der Via Dolorosa.

"Wenn einer mir nachfolgen will, so verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich", spricht der Herr im Evangelium nach Markus - und Masen Kanaan, daran kann nun wirklich kein Zweifel bestehen, hat Jesus beim Wort genommen. Für einen frommen Muslimen ist das vielleicht keine Selbstverständlichkeit, doch Kanaan folgt dem Dreiklang von Glaube, Hoffnung und Geschäft: Er ist der Mann, der in Jerusalem die leidsuchenden Pilger mit Holzkreuzen versorgt für ihren persönliche Passionsweg auf der Via Dolorosa. Tagein, tagaus steht er an der ersten Station des Kreuzweges bereit. Und wenn die Geschäfte schleppend laufen zwischendurch, hat er doch eine Gewissheit: Am Karfreitag wird alles gut.

Die Karwoche bedeutet Hochsaison für die Familie Kanaan, die seit Generationen bereits das Monopol besitzt beim Kreuz-Verleih. Schon in osmanischer Zeit wurden sie von den christlichen Konfessionen mit dieser Aufgabe betraut, weil die sich nicht hatten einigen können, wer von ihnen diese tragende Rolle übernehmen könnte. Ob es eine Ehre ist oder doch mehr eine Last, will Masen Kanaan nicht sagen. "Das ist uns halt aufgetragen, das kann man nicht ändern." An die 50 Kreuze hat er im Sortiment, dicht an dicht aufgereiht in einem lichtlosen Lagerraum auf der Via Dolorosa, Hausnummer 29. "Alles Olivenholz", erklärt er, "in zwei Gewichtsklassen: Die alten Kreuze wiegen 40 Kilo, die neuen 20 bis 22."

Sein Geld verdient Masen Kanaan aber nicht mit Leihgebühren, sondern mit Fotos, die er von den bepackten Pilgern entlang des Weges macht. Wen das Kreuz schmerzt, der darf obendrein auf seine Hilfe zählen. "Alten Frauen oder alten Männern nehme ich das schon mal ab", sagt er. Die meisten aber tragen ihr Kreuz allein über die Via Dolorosa, die sich 700 Meter lang durch die Altstadt schlängelt, vorbei an neun Stationen des Leidenswegs, vorbei am "Holy Rock Café", an "Abrahams Antiquitäten" und all den Souvenirhändlern, die auch Dornenkronen im Angebot halten.

An der Grabeskirche angekommen, deponieren die Pilger das Kreuz links neben dem Eingangsportal. Die letzten fünf Stationen befinden sich in der Basilika. Die Gläubigen erklimmen die abgewetzten Stufen hoch nach Golgatha und steigen dann wieder hinunter zum leeren Grab. Masen Kanaan aber muss Kreuz für Kreuz wieder zurückschleppen in sein Lager. Er ist in diesen Tagen der wahre Schmerzensmann der Via Dolorosa, ein muslimischer Sisyphus, der jeden Tag aufs Neue die Kreuze auf sich nimmt.

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