Japan: Krisenmanagement der Regierung:Im Blaumann gegen die Bedrohung

Die Menschen in Japan fürchten den Super-GAU, Ministerpräsident Naoto Kan gibt sich tatkräftig. Doch seine Regierung informiert nur widersprüchlich über die Lage im AKW Fukushima. Das trägt nicht zur Beruhigung bei - im Gegenteil.

Michael König

Naoto Kan reagierte schnell auf die Krise, sein Handeln war für jedermann auf den ersten Blick zu erkennen: Japans Ministerpräsident zog sich um.

Naoto Kan

Der japanische Ministerpräsident Naoto Kan (Mitte) im Gespräch mit Journalisten.

(Foto: AP)

Weg mit dem schwarzen Anzug. Her mit Jacke und Hose, wie sie in Japan Ingenieure und Techniker tragen. Im Blaumann verkündete Kan, das Erdbeben der Stärke 9,0 bedeute für Japan die schlimmste Krise, die das Land seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt habe.

Der optische Stilwechsel sollte Handlungsfähigkeit symbolisieren. Andere Politiker - etwa Bundeskanzler Gerhard Schröder in Gummistiefeln beim Oder-Hochwasser 2002 - haben damit gute Erfahrungen gemacht. Im Falle Naoto Kans behaupten Spötter allerdings, die zweite Garderobe sei das Einzige, was der Ministerpräsident in Sachen Krisenmanagement bisher zu bieten hat.

"Wir brauchen dringend Informationen"

Zwar ließ er sich medienwirksam im Hubschrauber in die vom Tsunami betroffenen Gebiete fliegen, das schwerbeschädigte Atomkraftwerk begutachtete er aus der Luft. Aber wie schlimm es tatsächlich um den Meiler steht, wie groß die atomare Bedrohung ist - diese dringlichsten Fragen will oder kann seine Regierung offenbar nicht beantworten.

"Die Art und Weise, in der die Regierung Informationen bereitgestellt hat, wirft Fragen auf", schrieb die Zeitung Yomiuri. Nach anfänglicher Zurückhaltung ist das Krisenmanagement Naoto Kans in der japanischen Presse zunehmend ein Thema. Die Menschen in Tokio bereiten sich angesichts der unklaren Lage auf das Schlimmste vor. Eine Massenpanik ist bislang ausgeblieben, viele Japaner handeln mit der landestypischen Besonnenheit. Die Regierung hingegen scheint geradezu hilflos zu agieren.

Seit am Freitag um 14:46 Uhr im Pazifischen Ozean die Erde bebte, widersprechen sich Regierungsvertreter öffentlich, widerrufen eigene Aussagen oder geben Informationen nur scheibchenweise preis. Auch im Ausland macht sich angesichts der unklaren Lage Nervosität breit: "Wir und alle anderen Länder brauchen dringend weitere Informationen über den genauen Status dieser Reaktoren", sagte Australiens Premierminister Kevin Rudd in einem Radiointerview.

Fünf Stunden Schweigen

Als Naoto Kan am Freitag um 16 Uhr - etwa 75 Minuten nach dem Erdbeben - erstmals vor die Presse tritt, heißt es: Die betroffenen Reaktoren hätten sich selbst abgeschaltet, es bestehe keine Gefahr. Kurz darauf wird bekannt, dass die Regierung alle Anwohner im Umkreis von zwei Kilometern aufforderte, ihre Häuser zu verlassen. Medienberichte warnen, das Kühlsystem laufe im Notbetrieb, der Strom reiche nur noch für zwei Stunden. Der Greenpeace-Energieexperte Christoph von Lieven warnt im Interview mit sueddeutsche.de: "Wenn es zur Kernschmelze kommt, ist Tschernobyl die richtige Assoziation."

Am Samstag um 13:45 Uhr teilt die japanische Atombehörde mit, sie schließe eine Kernschmelze nicht mehr aus. Gegen 15:30 Uhr zeigen Fernsehbilder eine Rauchwolke über dem Reaktor 1 des AKW Fukushima-1 (Daiichi). Es dauert mehr als fünf Stunden, bis sich die Regierung äußert: Premier Naoto Kan zeigt sich in einer Fernsehansprache um 21 Uhr besorgt, Regierungssprecher Yokiu Edano gibt zu, dass bei der Explosion das Reaktorgebäude zerstört worden ist. Es werde jedoch kein größeres radioaktives Leck erwartet. Dem widersprechen Medienberichte, die kurz vor Mitternacht eine deutlich erhöhte Strahlenbelastung in der näheren Umgebung des AKW melden.

Noch verworrener ist die Lage am Sonntag, als der Regierungssprecher um 12 Uhr verkündet, im Reaktor 3 des AKW Fukushima-1 sei es zu einer "geringen Kernschmelze" gekommen. Wegen einer möglichen Ansammlung von Wasserstoff sei eine Explosion nicht auszuschließen - sie stelle aber "kein Problem" für den Reaktor dar.

Um 21:30 Uhr die Kehrtwende: Yukio Edano nimmt seine eigenen Aussagen zurück. Es habe keine Kernschmelze stattgefunden. Zwar würden die radioaktiven Strahlungswerte die zulässigen Werte übersteigen, eine Gefahr für die Bevölkerung bestehe aber nicht.

Tschernobyl? Ausgeschlossen!

Am Montag um 17:30 Uhr melden die japanischen Behörden schließlich eine Explosion im Reaktor 3 von Fukushima-Daiichi - das Gebäude sei zerstört worden, der innerste Sicherheitsbehälter aber noch intakt. Kurz darauf berichtet die Nachrichtenagentur Kyodo, der Reaktorblock 2 liege komplett trocken - Kühlversuchen mit Meerwasser zum Trotz. Die Betreiberfirma Tepco räumte ein, es habe womöglich eine teilweise Kernschmelze stattgefunden.

Regierungssprecher Yukio Edano war abermals spät dran: Minuten später sagte er nach Angaben der Nachrichtenagentur Kyodo, es drohe eine Kernschmelze in drei Reaktoren.

Nicht wenige Menschen erinnert die Informationspolitik an das Verhalten der sowjetischen Regierung nach der Explosion des AKW Tschernobyl im Jahr 1986. Internationale Experten, zum Beispiel der Umweltschutzorganisation Greenpeace, bezweifeln, dass die japanische Regierung das ganze Ausmaß der Krise offenlegt. Dass Koichiro Gemba, Japans Minister für Nationale Strategie, eine Katastrophe wie in Tschernobyl schlichtweg ausschloss, macht die Angelegenheit in ihren Augen nicht besser.

Für den Ministerpräsidenten könnte sich die Krise zum Sargnagel seiner politischen Karriere ausweiten - angeschlagen war er ohnehin schon. Der 64-Jährige Politiker der Demokratischen Partei Japans (DPJ) galt als Hoffnungsträger, seit er 1996 als damaliger Gesundheitsminister einen Skandal um verseuchtes Blutplasma in japanischen Krankenhäusern aufklärte. 2004 bekam sein Ruf erste Kratzer, als bekannt wurde, dass er es versäumt hatte, Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung zu bezahlen.

Skandalöse Spende

2010 wurde Naoto Kan zum Ministerpräsidenten gewählt, seine Beliebtheitswerte bewegten sich in Umfragen zuletzt aber nur bei 20 Prozent. Am Freitag forderte die Opposition seinen Rücktritt, weil er die Spende einer koreanischen Familie angenommen hatte - ausländisches Geld ist für japanische Politiker tabu.

Dann kam das Erdbeben, und die Kritik verstummte. Angesichts der gewaltigen Herausforderung kann sich der Ministerpräsident darauf verlassen, dass sich seine Gegner in den Dienst der Sache stellen und die Regierung unterstützen. Der Burgfrieden wird jedoch nicht ewig halten.

Sollte es Naoto Kan nicht endlich gelingen, verlässliche Informationen zu den Folgen des Erdbebens zu veröffentlichen, droht die ohnehin schon große Verunsicherung im Volk zu wachsen. Ein kontrolliertes Bewältigen der Krise wäre dann noch schwieriger - und dem Ministerpräsidenten hilft vermutlich nicht mal mehr ein blauer Anzug.

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