Logik der japanischen Katastrophe:Verstecken, unterdrücken, bloß keine Schwäche zeigen

Die Japaner reagieren auf die Atom-Katastrophe nur scheinbar gelassen. Tatsächlich wird ihre Panik nicht sichtbar - sie folgen ihrem kulturellen Kodex. Wer denkt, sie seien ruhig, beweist nur westliche Arroganz.

Christoph Neidhart, Osaka

Warum reagieren die Japaner so gelassen? Menschen, denen Beben und Tsunami alles geraubt haben, hocken nun auf einem Turnhallenboden, frieren - und beantworten doch geduldig Reporterfragen. Die Einwohner Tokios verfallen nicht in Panik, auch wenn die Meldung kommt, der Wind habe nach Süden gedreht, die Radioaktivität in der Hauptstadt sei leicht erhöht. Warum bemühen sich die Japaner trotz der Katastrophe, ihr alltägliches Leben so gut es geht weiterzuführen? Und warum entschuldigen sie sich dabei immer wieder?

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Das Erdbeben hat ihnen alles genommen, dennoch reagieren viele Japaner ruhig. Scheinbar ruhig.

(Foto: AFP)

Angst zeigt man in Japan nicht. Auch Schmerzen nicht. Und abhauen? Wo sollten sie hin? Hier ist ihr Platz, das ist das Gefühl der allermeisten. Was nicht bedeutet, dass die Menschen keine Angst spüren: Kaum jemand in Tokio ist derzeit wirklich gelassen. Doch eines der obersten Gebote der japanischen Sitten ist, dass man andern nicht zur Last fällt. Wer es aus Versehen doch tut, und sei es nur vermeintlich, der entschuldigt sich. Dafür gibt es im Japanischen eine Reihe abgestufter Formeln. Selbst wer das Wort ergreift, entschuldigt sich zunächst. Ruft man jemanden an, sagt man zum Abschied etwas, was wörtlich mit "Ich bin unhöflich gewesen", übersetzt werden kann. Das ist die schwächste Form einer Entschuldigung.

Japaner wollen nie in jemandes Schuld stehen, weshalb sie sich auch dauernd bedanken. Gewiss, das sind Floskeln einer Sprache, deren buchstäbliche Bedeutung den Sprechern im Alltag oft nicht bewusst ist. Doch Sprache und Verhalten prägen sich gegenseitig: Wer sich stets entschuldigt, neigt wahrscheinlich weniger zu großen Gesten und öffentlichem Ausdruck des Leids.

Das Japanische kennt viele Begriffe, die sich je nach Geschlecht und Status der Sprechenden verändern. Männer dürfen gröber reden, Politiker - die Angehörigen einer Männerclique - sprechen sich gegenseitig an wie Schuljungen. Männer aus dem Ausland, die die Landessprache von japanischen Dozentinnen gelernt haben, sprechen zumeist "zu weiblich".

Permanente Hierarchisierung

Im Japanischen muss man sich bei jedem Gespräch sozial verorten. Spricht man mit einem sozial Höhergestellten, einer älteren Person oder einem Kunden, dann markiert man das in seinen Sätzen. Spricht man mit einem Untergebenen, einem Kind oder einer Verkäuferin, dann gibt man mit einer anderen Form zu verstehen, wer die Autorität hat. Diese permanente Hierarchisierung prägt alle Beziehungen.

Taucht nun das Fernsehen auf, das im japanischen Alltag trotz seiner miesen Qualität noch mehr Autorität hat als in Europa, dann fallen die kleinen Leute auf dem Land in die bescheidene Form, also jene des Untergeordneten. Erst recht, wenn sie erschüttert sind vom Leid, das über sie hereingebrochen ist. Deshalb haben sie das Gefühl, sich beherrschen zu müssen, wenn das "große" Fernsehen mit ihnen spricht.

Japaner lernen schon im Kindergarten, sich in ihre Gruppe einzuordnen. Es ist wichtig, dass schon die Kleinsten ihre Plätze in der Gruppe finden. Diesen auszufüllen ist Pflicht. Wenn sich Japaner "fehl am Platz" fühlen - die deutsche Metapher trifft da sehr genau -, dann irritiert sie das zutiefst. Und vermutlich bemühen sie sich erst recht, ihren Platz auszufüllen, wenn die Normalität um sie herum zusammenbricht. Das kann hilfreich sein: Je mehr Leute den Schein der Normalität aufrechtzuerhalten versuchen, desto leichter kann sie tatsächlich für alle aufrechterhalten werden.

Das Schriftzeichen, das die Japaner für das Adjektiv "japanisch" gebrauchen, ist wa, es bedeutet heute Harmonie, Friede, Gleichgewicht. Dieses wa ist nur erreichbar, wenn sich alle darum bemühen, wenn sie sich also der Gruppe unterordnen. Zu behaupten, wa sei das Leitprinzip der japanischen Gesellschaft, wäre wohl übertrieben. Aber es trägt zum reibungslosen Zusammenleben bei, wenn alle sich bemühen, den andern nicht zur Last zu fallen.

Man kann diese Haltung einer Mehrheit der Japaner angesichts einer unfassbaren Katastrophe auch mit Begriffen wie Selbstdisziplin, Zurückhaltung und Bescheidenheit umschreiben. In sie hineinzulesen, die Japaner seien sich der Gefahren der Reaktoren nicht bewusst, ist bestenfalls ein kulturelles Missverständnis.

Und zu sagen, sie seien gelassen, weil ihre Panik nicht sichtbar wird, ist westliche Arroganz: Warum sollten Japaner reagieren wie Europäer oder Amerikaner? Auf ihren von Vulkanen, Taifunen, Erdbeben und Tsunamis immer wieder heimgesuchten Inseln haben sie gelernt, dass das Überleben nur gemeinsam gelingt.

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