Japan:Der Geist der Akiya

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Ein Treppenaufgang in Yokosuka. In dem Viertel mit seinen engen Durchgängen und grünen Hügeln stehen zwanzig Prozent der Häuser leer. (Foto: Akio Kon/Bloomberg)

Wenn es ums Wohnen geht, scheren sich Japaner nicht um kulturelles Erbe oder Schönheit. Deshalb verfällt die historische Bausubstanz.

Von Christoph Neidhart, Ainokicho

Der Schnee vom letzten Winter hat das Dach eingedrückt, im Wohnzimmer wächst zwischen den Trümmern der Dachbalken Gestrüpp, die Schindeln der Decke hängen herunter wie ein Vorhang. Im Hinterhaus rankt sich Efeu an einem Fahrrad hoch. Bis vor zwei Jahren hat hier ein altes Bauernpaar gewohnt, im Briefkasten steckt noch Post. Jetzt gehört das Haus im Weiler Ainokicho zu Japans 8,2 Millionen Akiya, wie man die verlassenen Häuser nennt. Zur Zeit stehen 13,5 Prozent aller Eigenheime Japans leer, und es werden täglich mehr. Ein Fünftel von ihnen sind alte Holzhäuser, die verfallen, so Hidetaka Yoneyama vom Fujitsu-Forschungsinstitut. Er ist Japans Akiya-Experte.

Ainokicho liegt in einem Tal mit Reisfeldern in Fukui, einer Präfektur an der dünn besiedelten Küste Japans, einer jener Gegenden, deren Bevölkerung besonders schnell abnimmt: um 2,8 Prozent in den letzten fünf Jahren. Tiefer in den Bergen von Fukui sterben ganze Dörfer aus. "Die Jungen wollen alle gehen, die meisten sind schon weg", erklärt eine Frau im Laden des nächsten Dorfes. "Unsere Winter sind hart und schneereich." Irgendwann können auch die Alten nicht mehr. Zurückbleiben ihre Häuser. Und auch die Reisfelder, die niemand mehr beackert. Die Landwirtschaft habe, so Shunzo Naito, Bürgermeister im Städtchen Echizen, zu dem Ainokicho gehört, enorme Schwierigkeiten, Nachwuchs zu finden. Wenn die Eltern sterben, will meist keines der Kinder das Haus. Sie leben ihr Leben in den Städten. Die Häuser verrotten. Das Institut Nomura erwartet, dass bis 2023 ein Fünftel, 2033 sogar ein Drittel von Nippons Häusern leer stehen wird.

Es lohnt sich steuerlich, Häuser verwahrlosen zu lassen. Die Regierung will das ändern

In Tokio kann man alte Häuser an Immobilienfirmen verkaufen, obwohl diese nur das Grundstück wollen. Sie reißen das Haus dann ab. In der Provinz dagegen muss man den Abbruch selber bezahlen, vorher hat man keine Chance, ein Grundstück loszuwerden. Es lohnt sich auch steuerlich, alte Häuser verwahrlosen zu lassen, statt sie abzubrechen. Ein leeres Grundstück wird sechsmal höher besteuert als eines, auf dem ein Haus steht, unabhängig davon, ob es bewohnt ist oder nicht. Die Hälfte der Besitzer haben deshalb die Absicht, ihre Akiya einfach weiter verkommen zu lassen, wie Experte Yoneyama mit einer Umfrage ermittelt hat.

Dieser Unsitte versucht die Regierung von Premier Shinzo Abe mit einem neuen Gesetz den Riegel vorzuschieben. Akiya seien ein Sicherheitsrisiko, meint die Regierung. Unbefugte könnten sie besetzen oder dort Müll ablagern, Ratten und anderes Ungeziefer nisteten sich ein, und wenn die Häuser einstürzten, gefährde dies Passanten und Verkehr. Außerdem seien sie hässlich. Das Gesetz ermächtigt die lokalen Behörden deshalb, Akiya-Besitzern die Steuererleichterung zu verweigern. Nach mehrfacher Warnung dürfen die Gemeinden die Häuser neuerdings auch auf Kosten der Besitzer abreißen. Allerdings glauben viele Japaner, das Gesetz lasse sich nicht durchsetzen. Kleine Gemeinden befürchten, sie würden auf der Abbruch-Rechnung sitzenbleiben.

Die meisten Japaner wollen nicht in gebrauchten Häusern wohnen. Gebraucht gilt hier beinahe als Synonym für schmutzig, das ist nicht nur bei Häusern so, die Japaner meiden auch Gebrauchtwagen. Eine Familie, die in ein zuvor bewohntes Haus einzieht, gesteht ein, dass sie sich kein neues leisten kann. Ist ein Objekt mehr als 25 Jahre alt, gilt es deshalb als wertlos. Ein Käufer muss nur noch den Grundstückspreis zahlen. In Japan beträgt die durchschnittliche Nutzungsdauer eines Eigenheims 32 Jahre, im Jahre 2000 waren es sogar nur 27. Die hohen Grundstückspreise verleiten die Bauherren, bei der Qualität der Häuser zu sparen. Damit werden gebrauchte Objekte noch unattraktiver. In den USA beträgt die durchschnittliche Nutzung eines Eigenheims 67 Jahre, in Deutschland rechnet man sogar mit 80 Jahren. In Japan dagegen kommen die meisten gebrauchten Häuser nie auf den Markt, nur in 15 Prozent der angebotenen Objekte hat zuvor jemand gewohnt, in den USA sind es 70 bis 90 Prozent. Das erlaubt es Nippons Baugewerbe trotz des hohen Leerstands jährlich 800 000 bis 900 000 neue Häuser zu errichten.

Neuerdings machen allerdings viele Gemeinden bei der Akiya-Bank mit, einer Non-Profit-Organisation, die renovierungswillige Besitzer berät und per Online-Börse Bewohner für intakte, leer stehende Häuser sucht. Auf den kleinen Inseln vor Hiroshima hat eine Gruppe Aktivisten begonnen, traditionelle Holzhäuser zu renovieren. Das kennt man in Japan bisher kaum. Das kulturelle Erbe und die Schönheit gingen sonst verloren, so Initiator Masako Toyoda. Die Behörden reagieren freilich skeptisch, die Politik ist vor allem in der Provinz mit der Bauindustrie verbandelt, die kein Interesse an der Erhaltung von Bausubstanz hat.

Die Nachbarn beschwerten sich, weil es in dem leeren Haus angeblich spukte

Auf der Halbinsel Shimbara in der Nähe von Nagasaki hat sich die Apothekerin Yoko, als ihre Eltern noch lebten, in deren großem Garten ein eigenes Haus gebaut. Das ist auch in den Großstädten üblich. Seit die beiden gestorben sind, steht das Elternhaus leer. Sie wisse nicht einmal mehr, wie viele Zimmer es habe, lacht Yoko, sie sei lange nicht mehr darin gewesen. Häuser wie dieses tauchen in der Akiya-Statistik nicht auf, da auf dem Grundstück jemand wohnt. In den schnell alternden Landpräfekturen ist der Prozent-Anteil der Akiya besonders hoch. Auf der Insel Shikoku und in Yamanashi und Wakayama steht schon heute jedes fünfte Haus leer. In absoluten Zahlen jedoch gibt es in Osaka und Tokio die meisten verlassenen Eigenheime, viele von ihnen sind schöne alte, aber vernachlässigte Holzhäuser. Entweder können sich die Erben eines Objekts nicht einigen, oder die Besitzer behalten das Grundstück, weil sie es als sichere Geldanlage betrachten. Manche schreckt der Mieterschutz ab, deshalb vermieten sie nicht.

So gibt es immer weniger Objekte wie das alte Holzhaus, das siebzig Jahre lang im Tokioter Stadtteil Kyodo stand. Ein Haus, wie man es bald nur noch aus alten Filmen kennen wird, mit Tatami-Böden und in der Mitte des größten Raums eine Luke für die Feuerstelle der Teezeremonie. Dazu eine Nische für den Hausaltar und Papier-Schiebetüren zur Süd-Veranda mit Garten. In diesen Häusern, in denen man fast ohne Möbel auf den Tatami-Böden lebt, friert man im Winter etwas, kommt dafür aber ohne Klimaanlage durch den Sommer. Und man braucht etwas Geschick für anfallende Reparaturen.

Das ist den meisten zu viel. Manche wollen auch die Wohnlichkeit eines solchen Hauses nicht erkennen und sprechen nur von den Unannehmlichkeiten. Im vorliegenden Fall willigte der Hausbesitzer erst in einen Vertrag ein, als die Mieter schriftlich garantierten, dass sie im Falle eines Rauswurfs nicht klagen würden. Als die Mieter nach fünf Jahren auszogen, ließ der Eigentümer das Haus erneut leer stehen, bis er es schließlich abriss. Die Nachbarn hatten sich beschwert. Von vielen leeren Häusern heißt es, es spuke in ihnen. An seiner Stelle vermietet er nun Parkplätze. Nur 2,2 Prozent der Besitzer von Akiyas denken ans Vermieten, so Yoneyama, nur neun Prozent möchten verkaufen. Einzig an der Tohoku-Küste, der Gegend, die der Tsunami 2011 verwüstete, gibt es weniger Akiya. Nach der Katastrophe wurden viele leere Häuser reaktiviert. Tokio dagegen werde, glaubt Experte Yoneyama, bald einen ähnlich hohen Prozentsatz an Akiya erreichen wie die Provinz. Inzwischen vergammeln sogar Mietshäuser, die in Japans Boomjahren schnell und billig hochgezogen wurden. Auch ihre Besitzer überlassen sie oft sich selber. Auf dem Land stehen Fabriken total leer, in Kleinstädten Einkaufszentren. Und in ganz Japan sind 20 000 buddhistische Tempel ungenutzt, mehr als ein Viertel des gesamten Bestandes.

© SZ vom 28.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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