70 Jahre Hiroshima und Nagasaki:Wie Japan zum Atomstaat wurde

Mother & Child In Wasteland

Eine Mutter mit ihrem Kind, drei Tage nach der Apokalypse von Nagasaki.

(Foto: Alfred Eisenstaedt/Time & Life Getty Images)

Japan sah sich nach dem Krieg als Opfer einer feindlichen Wissenschaft. Heute hat das Land ein verblüffendes Verhältnis zur Kernkraft.

Von Christoph Neidhart, Tokio

Haben Hiroshima und Nagasaki Japan in die Kapitulation gezwungen und so den Zweiten Weltkrieg vorzeitig beendet? Brauchte es dazu wirklich beide Bomben? Diese Fragen beherrschen die Atombomben-Debatte, die in den USA kurz nach Kriegsende einsetzte und bis heute anhält. Sie hat wichtige andere Fragen verdrängt. Die A-Bomben hätten eine Invasion Japans überflüssig gemacht, rechtfertigte Washington den Einsatz. In der Summe habe der Tod von 130 000 bis 240 000 Menschen damit viel mehr Leben gerettet. Kritiker halten entgegen, die Regierung in Tokio habe die Aussichtslosigkeit der Lage schon vor Hiroshima erkannt und Vermittlung für Waffenstillstandsgespräche gesucht. Washington wusste dies aus entschlüsselten Funksprüchen.

Japans Politik nahm die Rechtfertigung der Amerikaner hin. Bis zum Abzug der Besatzer 1952 hatte sie keine Wahl. Die US-Militärzensur kontrollierte jedes publizierte Wort. Berichte über Atombomben-Schäden waren verboten, Fotos und Zweifel an der Motivation der USA sowieso. Selbst Trauergedichte kassierte die Zensur.

"Wir haben gegen die Wissenschaft des Feindes verloren"

In den Versuch der Japaner, das unendliche Leid zu rationalisieren, mischte sich bald Bewunderung der wissenschaftlichen Leistung der Atombomben-Konstrukteure. Am Tag nach der Kapitulation konstatierte die Zeitung Asahi: "Wir haben gegen die Wissenschaft des Feindes verloren." Der Historiker John Dower greift dies in seinem Buch "Embracing Defeat" auf: "Die Bombe wurde zur Warnung vor weiteren Kriegen, aber zugleich zum Leuchtfeuer einer künftigen Stärkung Japans."

Um die Japaner von der Bombe abzulenken, lieferten die USA seit 1954 Technologie zur friedlichen Nutzung der Kernkraft. Der damalige Chef der US-Atomenergie-Kommission, Thomas Murray, nannte dies eine "dramatische und christliche Geste". Von Washington angereizt, begann Tokio nur ein Jahrzehnt nach Hiroshima und Nagasaki, Befürworter friedlicher Kernenergie-Nutzung zu werden. Proteste, vor allem von Frauen, wurden unterdrückt, das offizielle Gedenken an die Opfer auf Hiroshima und Nagasaki reduziert. Von dort mahnen die Bürgermeister die Welt auch dieses Jahr zur nuklearen Abrüstung.

Stalins Ziel war es wohl, Japan zu teilen

Für Japans Öffentlichkeit war das Thema damit vom Tisch. Der Krieg war vorbei, interessierte nicht mehr. Dower wundert sich über die Leichtigkeit, mit der die große Mehrheit anderthalb Jahrzehnte Militarismus und Krieg abgeschüttelt habe.

Washington muss schon deshalb an seiner Rechtfertigung festhalten, weil der hunderttausendfache Tod Unschuldiger sonst ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit wäre. Der Historiker Tsuyoshi Hasegawa hält der US-Rechtfertigung entgegen, die Atombomben hätten kaum zur Kapitulation Japans beigetragen. Sie hätten die Regierung auch nicht in Panik versetzt. Den Ausschlag, sich rasch zu ergeben, habe Stalin gegeben. Moskau war Japan zur Neutralität verpflichtet. Am 8. August, zwei Tage nach Hiroshima, aber vor Nagasaki, kündigte die Sowjetunion den Neutralitätspakt und erklärte Japan den Krieg. In der Nacht darauf fiel die Rote Armee in die von Japan kontrollierte Mandschurei ein. Japans Heer war so geschwächt, dass Tokio Invasionen von USA und Sowjets befürchten musste. Stalins Ziel war es wohl, Japan zu teilen wie Deutschland. Tokio wendete das ab mit der Kapitulation vor den USA.

Schnell fühlten sich die Japaner als Opfer des Weltkriegs

Die Japaner halten Stalins späten Angriff für großes Unrecht. In drei Wochen verlor Tokio seine Territorien nördlich Hokkaidos und auf dem asiatischen Festland. Zudem nahmen die Sowjets mehr als eine halbe Million Japaner kriegsgefangen. Dies, die Niederlage und das Elend der Nachkriegswinter machten die Japaner in ihren eigenen Augen bald zu Opfern des Weltkriegs, so Dower. Berichte und Literatur über Hiroshima und Nagasaki, die nach der Besatzung erschienen, vertieften dieses Opfergefühl. Japans Aggressions-Krieg, den das Volk mitgetragen hatte, wurde verdrängt. Dower fand in der Populärkultur nach dem Krieg keine nicht-japanischen Opfer. Nippon halte das Andenken an Kriegsverbrecher hoch, ihre Verbrechen vergaß es rasch. Eine ernsthafte Debatte der Kriegsschuld fand nicht statt.

Die Ölkrisen der Siebzigerjahre bewogen Japan, erst recht auf Atomkraft zu setzen. Dann machten die Katastrophen von Three Miles Island und Tschernobyl den Bau von AKWs in den USA fast unmöglich. Die Haltung der Japaner änderte sich kaum. Das erlaubte japanischen Firmen, allen voran Toshiba, große Teile der US-Atomindustrie zu übernehmen. Deshalb verlangt Washington von Tokio auch nach Fukushima, an der Atomkraft festzuhalten. Die einst amerikanische Nuklearindustrie ist in Japans Hand, würde es sie aufgegeben, wären Russland und China die führenden Atomstrom-Staaten.

Tokio verletzt seine Prinzipien

Die militärische Nutzung der Kernkraft lehnte Tokio stets ab - offiziell. Es ist bei vielen Abrüstungsinitiativen dabei und erlegte sich 1967 drei Prinzipien auf: keinen Besitz, keine Produktion, keine Stationierung von Kernwaffen. Tokio verletzte seine Prinzipien schon fünf Jahre später. Es erlaubte 1972 in einem Geheimvertrag den USA, auf Stützpunkte in Japan Atomwaffen zu bringen. Tokio gab das erst 2010 zu.

Kaum ein Land hat sich für seine Abwehr so sehr auf den "nuklearen Schutzschirm" der USA verlassen. Ex-Verteidigungsminister Shigeru Ishiba geht weiter: "Ich glaube nicht, dass Japan Atomwaffen braucht", sagte er nach Fukushima. "Aber es ist wichtig, die kommerziellen Reaktoren zu behalten, weil sie uns erlauben, in kurzer Zeit Kernsprengköpfe zu bauen." Eine "stille nukleare Abschreckung". So wurde das einzige Opfer der Atombomben zum Atomstaat.

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