Beginn des Zweiten Weltkriegs:"Die Stimmung war fast pathetisch"

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Wilhelm Simonsohn, Jahrgang 1919, Zeitzeuge, erlebt den Zweiten Weltkrieg als Soldat der Wehrmacht, erst in Polen, dann in Frankreich, später als Nachtjäger (Foto: privat)

Wilhelm Simonsohn hilft als Wehrmachtssoldat, den deutschen Angriff auf Polen vorzubereiten. Als der Adoptivsohn eines Juden das zerstörte Warschau erreicht, gibt er sich ein Versprechen.

Von Benedikt Becker

Wilhelm Simonsohn, Jahrgang 1919, wächst in Altona auf, damals noch eine eigenständige Stadt vor den Toren Hamburgs. Er erlebt eine glückliche Kindheit ohne materielle Sorgen. Sein Vater, ein Kohlenhändler, ist Jude, seine Mutter Christin. Als Simonsohn 15 ist, beschimpfen ihn seine Kameraden in der Marine-Hitlerjugend als "Judenlümmel". Erst da erfährt er, dass seine Eltern ihn als Zweijährigen adoptiert haben.

Mit Hitlers Rassengesetzen beginnt für die Familie der finanzielle Abstieg. Bald leben sie von dem, was Wilhelm Simonsohn mit Nachtschichten in einer Dreherei verdient. Tagsüber absolviert er eine Ausbildung in einer Maschinenbaufabrik. Aus der Marine-Hitlerjugend tritt er aus.

Ende 1938 wird Simonsohns Vater ins Konzentrationslager Oranienburg gebracht. Der Sohn setzt sich für ihn ein, verweist auf die deutsch-nationale Gesinnung des zum Christentum konvertierten Juden. Nach wenigen Wochen wird sein Vater freigelassen, stirbt aber später an den Folgen der KZ-Haft.

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Trotz der Drangsalierung seines Vaters "funktioniert" Sohn Wilhelm im Sinne des NS-Staats. Doch er scheint aufmerksamer als andere zu sein und entwickelt ein Gespür für die nahende Katastrophe.

"Im Herbst 1938 war ich im Emsland zum Reicharbeitsdienst (RAD) eingeteilt. Wir mussten Kanäle für Torfkrähne anlegen. Ende September tauchten plötzlich Wehrmachtssoldaten auf. Sie tauschten unsere Spaten gegen Gewehre. Dann mussten wir exerzieren. Für uns kam das total überraschend. Rückblickend weiß ich, dass es mit dem Einmarsch in das Sudetenland zusammenhing, vermutlich eine Teilmobilmachung."

Simonsohns offizielle militärische Ausbildung beginnt Ende 1938. Als Wehrmachts-Rekrut kommt er zu den Seefliegern nach Schleswig. Anschließend wird er als sogenannter Bildsoldat ausgebildet. Er wertet Fotos aus, die Flugzeugbesatzungen gemacht haben.

"Ich lernte die ganze englische Flotte auswendig, konnte sie mit der Lupe auf den Aufnahmen identifizieren. Aber nach der Ausbildung, im Juni 1939, kam ich zum Heer, zu einer Aufklärer-Staffel in Neubrandenburg. Und wenig später - für uns völlig überraschend - nach Schlesien. Das machte mich stutzig. Warum blieben wir denn nicht dort in Pommern? Das musste ja einen Grund haben."

Angriff auf Polen, 1939. Eine deutsche motorisierte Division auf dem Vormarsch vor Warschau. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Im niederschlesischen Brieg (heute Brzeg) unterstützt Simonsohn im Stab des X. Armeekorps den Verbindungsoffizier seiner Staffel, der in einem Schloss untergebracht ist. Simonsohn nimmt die Luftaufnahmen der Heeresaufklärung entgegen. Er hat viel Freizeit.

"Das Wetter war schön in diesem Sommer, man gammelte ein wenig herum. Es war fast ein bisschen langweilig. Nur, wer wie ich politisch interessiert war, der merkte, dass etwas in der Luft lag. Im Radio hörten wir von Verhandlungen zwischen Polen und Deutschland. Die Vorzeichen eines Krieges verdichteten sich.

Dann kam der Hitler-Stalin-Pakt. Ein paar Kameraden hatten die Nachricht über den Volksempfänger gehört, wir konnten es zuerst gar nicht glauben. Die Kommunisten galten neben den Juden schließlich als die Feindbilder Nummer eins. Und plötzlich wurden die sowjetischen Soldaten unsere Waffenbrüder.

Ein oder zwei Tage vor Kriegsbeginn gab es dann vor dem Schloss einen Gottesdienst - zwischen den Feldhaubitzen. Gewehrpyramiden wurden aufgestellt, Priester in Uniform segneten unsere Waffen, wirklich sehr militärisch inszeniert. Damit war alles klar. Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung war das schon ein sehr deutliches Signal: Da knistert was. Die Stimmung war dementsprechend emotional aufgeladen, fast pathetisch"

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Die Anspannung entlud sich am 1. September, als die deutsche Wehrmacht ohne Kriegserklärung das Nachbarland Polen überfiel.

"Am Morgen wurden wir von den Heinkel- He-111-Bombern geweckt, die über uns hinwegdonnerten. Wir konnten sie in der Morgendämmerung nicht sehen, wir hörten sie nur. Da sind wir sehr munter geworden. Wir liefen wild durcheinander wie die Ameisen. Dann haben wir den Volksempfänger eingeschaltet. Gerade noch rechtzeitig, um alles Wichtige zu hören: die Rede Hitlers, die ganze Propaganda, die da verbreitet wurde.

Der Tag lief dann praktisch so ab, wie wir es aus vielen Manövern kannten. Die Offiziere gaben ihre Befehle aus: ,Jetzt geht's los!' Unsere Aufklärungs-Staffel startete am Vormittag, um zu fotografieren, was die Bomber zerstört hatten. Später hielt ich dann zum ersten Mal solche Bilder des Krieges in den Händen.

Der Stab muss wohl in der Nacht zuvor die gesamte Planung vorbereitet haben. Das war die übliche Arbeitsweise. Uns niederen Chargen hatte natürlich trotzdem niemand vorher gesagt, was passieren sollte. Wir wussten ja auch nicht viel über die große Politik. Aber natürlich hatten wir gemerkt, dass da was im Busch war."

Mit dem Kriegsbeginn am 1. September ändert sich für Simonsohn erst einmal wenig. Nach ein paar Tagen wird er selbst als Bote für die Heeresaufklärung eingesetzt. Er bekommt ein Krad, ein Motorrad mit Beiwagen. Im Stab des Armeekorps schnappt er viele Gespräche der höheren Offiziere auf. Der 20-Jährige ist nah dran an der strategischen Planung, aber noch weit weg von der Front.

"Am Anfang war der Krieg für mich nicht so hautnah, dass es ein Kampf auf Leben und Tod war. Mit dem Stab fuhren wir den kämpfenden Truppenverbänden hinterher, verlegten alle vier Tage. Unser General hatte eine Vorliebe für Herrenhäuser und Schlösser. Einmal bezogen wir unser Quartier im Jagdschloss des Fürsten Radziwill. Genau dort, wo kurz vorher Hermann Göring und der polnische Außenminister Oberst Józef Beck verhandelt hatten. Für mich war das alles noch ein bisschen wie ein Abenteuer: Tom Sawyer, Huckleberry Finn und so. "

Wieluń, Łódź, Radom - das sind die Stationen auf Weg nach Warschau, an die sich Simonsohn heute erinnert. Mit seinem Krad fährt er durch kleine Städte und Dörfer, über denen noch der Rauch steht, in denen Stunden vorher noch gekämpft wurde. Er begegnet Gefangenenkolonnen mit polnischen Soldaten, unterwegs Richtung Westen, links und rechts bewacht von Feldgendarmen. Nach wenigen Wochen im Tross des Stabes erreicht Simonsohn Warschau.

"Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen und durfte nach der Kapitulation meinen Oberleutnant in die Stadt begleiten. Da lag Warschau noch unter Quarantäne. Für mich ein Schlüsselerlebnis: die Trümmer, Pferdekadaver, Panzersperren aus umgekippten Straßenbahnen, und überall der penetrante Leichengeruch. Da habe ich mir gesagt: 'Egal was dir noch passiert als Soldat, du wirst nie eine Bombe werfen.'

Mehr als 20 000 Tote durch die Bombardements, keine Soldaten sondern hauptsächlich Zivilbevölkerung: Frauen und Kinder. Das hat mich am meisten betroffen gemacht und mich sehr viel ernster werden lassen. Als ich vor diesem Trümmerhaufen stand, bin ich innerlich um zehn Jahre gealtert. Da war mir dann bewusst, was so ein Krieg an Elend bedeutet. Und das hat mich bis heute geprägt."

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Für Simonsohn endet der Polenfeldzug in Białystok, an der von Hitler und Stalin vereinbarten Demarkationslinie. Dort lernt er sowjetische Soldaten kennen. 1940 nimmt er, wieder als Bildsoldat, am Westfeldzug gegen Frankreich teil.

Danach beantragt er seine Versetzung zur Luftwaffe und lässt sich zum Flieger ausbilden. Bevor er zum Einsatz kommt, vergehen Jahre, den Krieg bekommt er nur aus der Ferne mit. Seinem Vorsatz, keine Bombe werfen zu wollen, kann er gerecht werden.

Als Nachtjäger versucht er gegen Kriegsende, britische Bomber abzufangen. Er will damit deutsche Zivilisten vor den alliierten Bomben schützen. Doch der Mann, der eigentlich Pazifist sein will, tötet auf diese Weise trotzdem: Wilhelm Simonsohn schießt drei feindliche Flugzeuge ab.

Nach dem Krieg wird Simonsohn Beamter, später Verwaltungsleiter im Universitätskrankenhaus Eppendorf. Er lebt noch heute in Hamburg, geht als Zeitzeuge in Schulen und berichtet von seinen Erlebnissen. Wilhelm Simonsohn hat zwei Kinder, sechs Enkel und zwei Urenkel. In Kürze wird er 95 Jahre alt.

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