75 Jahre Zweiter Weltkrieg:Als Deutscher in England

Georg Bielstein

Kam im Alter von zwölf Jahren in die neue Heimat: Georg Bielstein.

(Foto: privat)

Georg Bielstein war zwölf, als er 1939 mit seinen Eltern nach Großbritannien auswanderte. Dort wurde die deutsche Familie trotz des Krieges gut behandelt - auch, weil der Vater dem Militär half.

Von Christian Zaschke, London

Am 15. April 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, erschien im Sunday Dispatch ein Artikel über einen Deutschen. Es war in den knapp sechs Jahren zuvor in Großbritannien viel über die Deutschen und den Krieg geschrieben worden, aber dieser Text war ungewöhnlich. Er war anders.

Er trug die Überschrift "Hans hat seine Geheimnisse nach London gebracht", und er handelte von einem gewissen Hans Brinwilde. Der Sunday Dispatch war eine recht muntere Wochenzeitung, die 1801 gegründet wurde und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Rekordauflage von mehr als zwei Millionen Exemplaren erreichte. 1961 wurde das Blatt nach 160 Jahren eingestellt.

75 Jahre Zweiter Weltkrieg

Am 1. September 1939 überfällt die Wehrmacht Polen. Nazideutschland hat den Zweiten Weltkrieg begonnen, der Europa zerstören und mehr als 55 Millionen Menschen das Leben kosten wird. Was hat dieser Krieg angerichtet, wie wirkt er bis heute nach? In der SZ erinnern sich Zeitzeugen an den Krieg.

In der Geschichte über Hans Brinwilde erfuhren die englischen Leser, dass dieser Deutsche den Briten geholfen hatte, den Krieg zu gewinnen. Brinwilde stellte optische Linsen her, und er zählte zu den Besten seines Fachs. Seine Expertise, so hieß es, habe dem britischen Militär sehr geholfen.

Wo genau er wohne, müsse daher geheim bleiben. Und was er genau zum bald anstehenden Sieg beigetragen habe, dürfe ebenfalls nicht veröffentlicht werden. Der Krieg lief ja noch. Nur so viel: Brinwildes Sohn werde demnächst an der renommierten Universität von Cambridge ein Studium der Naturwissenschaften aufnehmen. Die Familie aus Deutschland sei bestens integriert.

Der hübsche Familienname war eine Erfindung

69 Jahre später sitzt eben dieser Sohn im Wohnzimmer seines hübschen Häuschens im Südwesten Londons und lächelt. "Erfunden war es nicht", sagt er, "aber notgedrungen ungenau." Nicht nur, wo sein Vater wohnte und wie er dem Militär genau geholfen hatte, hielt der Sunday Dispatch geheim, er änderte auch den Namen.

Georg Bielstein erzählt, dass die Zeitung den hübschen Familiennamen "Brinwilde" einfach erfunden hatte und auch sonst nicht ganz so streng bei den Fakten blieb. Der Kern der Geschichte stimme jedoch, Bielsteins Vater hat medizinische Linsen für die britische Marine hergestellt. Er sagt, sein Vater habe also eher zum Leben als zum Tod beigetragen. Die Bielsteins zählten zu den Deutschen, die damals nicht vor den Nationalsozialisten fliehen mussten, aber trotzdem auswandern wollten. Sie kamen im Frühjahr 1939 in England an und blieben für immer.

Georg Bielstein war zwölf Jahre alt, als er seine neue Heimat erreichte. Sein Vater konnte mit der Ideologie der Nazis nichts anfangen, also hatte er seine Auswanderung nach London vorbereitet. Dort hatte er schon einmal gelebt, von 1908 bis 1918. Am Ende des Ersten Weltkriegs wurde er jedoch, weil er Deutscher war, erst interniert und dann ausgewiesen, obwohl er mit dem Krieg nichts zu tun hatte.

Als er 1939 dennoch erneut nach Großbritannien auswanderte, war er auch deshalb willkommen, weil er eine berufliche Qualifikation mitbrachte, die selten war. Die Bielsteins wurden freundlich behandelt. Zunächst wohnten sie in einem Gasthaus im Norden Londons, in Finsbury Park. Dann, zwei Wochen vor Ausbruch des Krieges, zogen sie in ein großes Haus im Süden Londons, in dem Bielstein senior auch seine Werkstatt hatte.

Und als am 1. September der Krieg ausbrach? Georg Bielstein, heute 87 Jahre alt, seit 66 Jahren britischer Staatsbürger, sagt: "Da hat sich für uns nicht viel geändert." Zwar wurden deutsche Einwanderer größtenteils zu "enemy aliens" erklärt, zu möglicherweise feindlichen Ausländern, aber die Bielsteins blieben unbehelligt.

Georg Bielstein sprach als Zwölfjähriger eher schlechtes Englisch. Als seine Mutter bei einem privaten Gymnasium anfragte, ob ihr Sohn nicht aufgenommen werden könne, empfahl der freundliche Schulleiter einen Vorbereitungskurs.

Nach 1945 hatte es Bielstein plötzlich schwer mit dem deutschen Namen

Bielstein absolvierte den Kurs und wurde anschließend auf dem Gymnasium akzeptiert. Doch: Das alles kostete Geld, der Kurs, die Schule. Bielsteins Mutter musste den Schulleitern sagen, dass die Familie gerade aus Deutschland ausgewandert sei und deshalb nicht viel Geld habe.

Georg Bielstein erzählt, dass die Schulleiter damals gesagt hätten: kein Problem, zahlen Sie einfach, wenn Sie wieder Geld haben. Wichtig sei erst mal, dass der Junge zur Schule gehe. Dass die Familie aus Deutschland kam, dem Land, mit dem sich Großbritannien seit eben im Krieg befand: Es habe keine Rolle gespielt.

"Von 1939 bis 1945 hatten wir so gut wie keine Probleme", erzählt Georg Bielstein. Gut, es gab die Phase, als Ausländer kein Radio mehr haben durften. Und ja, anfangs hatte die Familie keinen eigenen Unterstand, in den sie sich zurückziehen konnte, wenn die deutschen Bomber kamen.

Aber das Radio wurde nach sechs Monaten wieder erlaubt, und bald hatten die Bielsteins in ihrem Garten einen Unterstand für die Bombennächte gebaut. Es handelte sich um eine mit Wellblech ausgekleidete Grube, in der die Familie während der Luftangriffe schlief. Auch die Angst, im Lauf des Krieges doch noch interniert zu werden, legte sich. Die Briten sahen, sagt Bielstein, dass die deutschstämmige Familie zum Gemeinwesen beitrug.

Er war Brite, er gehörte dazu

Erst nach dem Krieg, sagt Bielstein, habe er es bisweilen schwer mit seinem deutschen Namen gehabt. "Es mag etwas absurd klingen, aber nachdem wir während des Krieges so gut wie keine Probleme hatten, stieß ein deutscher Name nach dem Krieg vielen Briten sauer auf." Das änderte sich auch nicht, nachdem er 1948 britischer Staatsbürger wurde. Doch mit den Jahren wurde es in der Millionen- und Einwandererstadt London immer weniger wichtig, woher Bielstein ursprünglich kam.

Er war Brite, er gehörte dazu. Auch deshalb hat Dr. Georg Bielstein fast sein ganzes Leben in der Stadt verbracht, die er so kurz vor Ausbruch des Krieges erreicht hatte.

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