50 Jahre türkische Gastarbeiter:Integration am Plattenteller

"In den Klubs waren alle gleich": Der Sohn eines türkischen Bandarbeieters und einer Analphabetin, sechstes von sieben Kindern, macht in Deutschland Karriere als DJ Suat G. Eine deutsche Erfolgsgeschichte, die in Ostanatolien begonnen und in die angesagten Clubs der Welt geführt hat.

Roland Preuß

Wer Hüseyin Günes fragt, ob es ihm in Deutschland gefallen hat, erhält eine klare Antwort: "Arbeiten, immer arbeiten", sagt der 77-Jährige und reißt die Augen auf. Es ist aber nicht so, dass Günes nun an der Arbeit so viel Gefallen gefunden hätte. Er schuftete in einer Münchner Kunststoffwerk, oben kam der 180 Grad heiße Brei herunter, da ging die Walze drüber und Günes hob die fertige Rolle rüber zur nächsten Walze. 35 Jahre ging das so, der Türke blieb seiner Firma immer treu. "Doch Arbeit hat mir nie Spaß gemacht", sagt er in holprigem Deutsch.

Suat

Aus Ostanatolien ins Münchner P1: Suat Günes hat als DJ Suat G. in Deutschland Karriere gemacht.

(Foto: oh/privat)

Seinem Sohn Suat würde da schon einiges einfallen. Dieses Jahr war er sieben Mal auf dem Oktoberfest, in Lederhosen und Janker versteht sich, gelegentlich legt er noch in Klubs auf und fährt am Wochenende seinen Porsche aus. Suat hat eine Karriere gemacht, die eigentlich unwahrscheinlich ist, zumindest dem gängigen Klischee nach: Der Sohn eines Bandarbeiters und einer Analphabetin, sechstes von sieben Kindern, steigt in der Musikbranche auf. Er ist zwar im selben Land aufgewachsen, in dem seine Eltern leben. Dennoch sind es zwei Welten.

Die Geschichte des Hüseyin Günes und seiner Familie beginnt 1965 in Tanzig, einem Dorf mit ein paar hundert Menschen. Bis in diesen Winkel Ostanatoliens hatte es sich herumgesprochen, dass Deutschland unter den Türken Arbeiter sucht, Gastarbeiter. Hüseyin meldete sich, er wollte Geld verdienen, doch es gab lange Wartelisten. Erst zwei Jahre später, 1967, war es so weit: Er kam in München an, seine Frau Hamide und die vier Kinder ließ er in der Türkei zurück. Eigentlich sollte das nur zwei Jahre dauern, doch Hüseyin ging es wie so vielen seiner Landsleute: Es ließ sich verführerisch gut Geld verdienen in Deutschland.

Plattenspieler vom Flohmarkt

Das schickte er nach Hause, seine Frau kaufte ein Grundstück in Ankara, nun brauchten sie noch mehr Geld. Also arbeitet er zwei weitere Jahre, dann noch zwei - seine Frau, seine Kinder sah er einmal im Sommer. Nach sechs Jahren wollte er nicht mehr weg. Es waren ungewisse Zeiten in der Türkei, Terroranschläge von Links- und Rechtsextremen verunsicherten die Bürger, das Militär griff immer wieder in die Politik ein. "Es ist sicherer für uns, wenn wir in Deutschland leben", sagte er.

1973 kam seine Frau mit dem elf Monate alten Suat, drei Geschwister folgten, erst 1976, neun Jahre nach Abreise des Vaters, war die Familie wieder komplett. Nun galt es, sieben Kinder durchzubringen in Deutschland, Hüseyin schuftete wie ein Besessener. Nachtschichten brachten mehr Geld, also fauchte er am Tag schon mal die Kinder an, sie sollten leise sein, weil er schlafen müsse. An die 900 Mark verdiente er im Monat. Hamide putzte in Krankenhäusern oder half in den Küchen von Gaststätten. Man habe nie Sozialhilfe gebraucht, sagt sie stolz.

Suat schicken sie in den deutschen Kindergarten, er schafft es auf die Realschule. Die Musik aber legen sie ihm nicht in die Wiege. Zu Hause, in einer heruntergekommenen Wohnung im Süden Münchens, gibt es nicht einmal einen Plattenspieler, Suat kauft sich einen auf dem Flohmarkt - mit 13 Jahren. Seine Inspirationsquellen sind dieselben wie bei seinen deutschen Klassenkameraden.

Er verschlingt die Jugendzeitschrift Bravo, in den 1980er Jahren begeistert er sich für Hip-Hop-Musik, auf alten Fotos sieht er aus wie einer dieser Gangster aus Musikvideos: Kapuzenpulli mit strengem Blick darunter. Suat macht sein Fachabitur, legt in ersten Klubs auf, House-Musik ist seine Leidenschaft. Seinen Eltern ist das alles sehr, sehr fremd. "Geh an die Universität, statt solche Musik zu machen", sagt seine Mutter.

95 Prozent deutsch

Doch die Eltern sind zu beschäftigt, um viel mitzubekommen. Sie arbeiten viel - und müssen ihre Aufmerksamkeit auf sieben Kinder verteilen. Seien Eltern, sagt Suat heute, waren sehr liberal, sie haben ihm vertraut, dass er seinen eigenen Weg geht. Und der führt ihn zu Schlüsselerlebnissen: In einem der bizarrsten Münchner Klubs dieser Zeit scheinen alle Unterschiede zu verschwimmen, Schwule, Lesben, Türken, Schwarze, Weiße - "alle waren gleich", sagt Suat. "Ich habe erstmals Typen mit nacktem Oberkörper und Piercings in der Brust gesehen, die im Nebel abgehen - das gefiel mir wirklich."

Suat entscheidet sich für den Plattenteller - und kommt groß heraus. Er mixt Musik zusammen, die ankommt, legt in Edeldiskotheken wie dem Münchner P1 auf, hat Aufträge in New York, Berlin, London und Barcelona. Acht Jahre betreibt er einen eigenen Plattenladen. "Suat G" ist nun seine Marke, ist Teil der Musik- und DJ-Szene, ein Leben am aktuellsten Beat, mit langen Nächten, mit einem Mercedes-Coupe. Was für ein Aufstieg für ein Gastarbeiter-Kind.

Die Zuwanderer haben Deutschland verändert, gerade die türkischen. Sie haben eine Kultur mitgebracht, die sich in Vielem von der neuen Heimat unterscheidet. Noch mehr aber hat das Land die meisten Türken verändert. Die Schulen, die Freunde, der Reiz der Freiheit - alles hat Spuren hinterlassen. Oft ist dies abhängig davon, wann jemand ins Land kommt. Suat kam als Baby, er ist hier aufgewachsen. Sein ältester Bruder kam mit 17 Jahren. Er studierte zwar Elektrotechnik, doch er kam nicht zurecht, fand keine Arbeit. "Sie werden mich immer als Ausländer sehen", sagte er zu seiner Mutter und ging in die Türkei zurück.

Blonde Haare, blaue Augen

Suat Günes ist heute 38 Jahre und arbeitet als selbständiger Sounddesigner, er stellt Musik für Firmen oder Restaurants zusammen, sodass immer der richtige Mix läuft. Er ist jemand, den man landläufig als integriert bezeichnet. Doch schon der Begriff "Integration" regt ihn auf. "Weil er viel zu schwammig ist - entscheidend ist doch, wie anständig die Leute sind, nicht wie angepasst", sagt er. Selbst wer sich gut einfügt, wird dafür oft nicht belohnt von den Einheimischen.

Das merkt er beim Vater einer ehemaligen Freundin, der ihm nicht die Hand geben will, bei Hausbesitzern, die ihm keine Wohnung vermieten wollen. "Wir werden mit allen in einen Topf geschmissen, mit Gastarbeitern, aber auch mit Extremisten - darunter leiden wir schon." Suat hat eine Deutsch-Türkin geheiratet, die aussieht wie eine Deutsche: Blonde Haare, Designerbrille, modische Kleider. Sie ist in Niederbayern aufgewachsen. "Ich hatte sehr oft Glück im Leben, weil ich deutsch aussehe", sagt sie. Das hat ihr viel erspart. Ihr Sohn sieht aus, als hätte er etwas geahnt: Auch er ist blond und hat blaue Augen, als wollte er nicht auffallen.

Hüseyin Günes ist aufgestanden und bewegt sich vorsichtig zum Sofa, er schleppt einen Schlauch hinterher, der ihn mit Sauerstoff versorgt. "Die Arbeit hat seine Lungen kaputtgemacht, der Dampf von der Kunststoffwalze", sagt seine Frau. Hüseyin sagt: "Ich fühle mich 100 Prozent türkisch." Seit 44 Jahren ist er in Deutschland. Suat sagt, er nehme sich das Beste aus beiden Kulturen. "Aber ich bin zu 95 Prozent deutsch."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: