25 Jahre Super-GAU von Tschernobyl (6):"Tschernobyl hat mein Leben verändert"

Seit dem Unglück in Tschernobyl hat der Nuklearmediziner Christoph Reiners 250 an Schilddrüsenkrebs erkrankte Kinder aus Weißrussland behandelt. Ein Gespräch über die Folgen des GAUs, die Zweifel der Experten und die "Enkel" seines Tschernobyl-Projekts.

Maria Fiedler

Christoph Reiners ist Professor für Nuklearmedizin und Ärztlicher Direktor am Universitätsklinikum Würzburg. Nach dem Kernreaktor-Unfall in Tschernobyl hat Reiners 250 Kinder aus Weißrussland nach Deutschland geholt und sie zunächst am Uni-Klinikum in Essen und später in Würzburg behandelt.

Professor Reiners

Fast alle der 250 Kinder, die Professor Reiners nach Deutschland holte, haben überlebt. Viele haben mittlerweile sogar eigene, gesunde Kinder - wie diese ehemalige Patientin des Nuklearmediziners.

(Foto: Privat)

Zudem hat der 65-Jährige die Hilfsaktion des Gemeinschaftschaftsausschusses Strahlenforschung zum Thema "Wissenschaftler helfen Tschernobyl-Kindern" geleitet. Der Verein "Medizinische Hilfe für Tschernobylkinder e. V." engagiert sich noch heute für die Nachsorge der Schilddrüsenkrebs-Patienten in Weißrussland und arbeitet eng mit der ebenfalls von Professor Reiners gegründeten weißrussisch-deutschen Stiftung "Arnica" in Minsk zusammen.

sueddeutsche.de: Herr Professor Reiners, was bedeutet die Atomkatastrophe von Tschernobyl für Sie?

Christoph Reiners: Tschernobyl hat mein Leben verändert. Einerseits als Wissenschaftler, indem es mich zu dem Schwerpunkt Schilddrüsenkrebs, der durch Strahlung verursacht ist, gebracht hat. Und rein menschlich habe ich in Weißrussland mit den Kollegen eine ganz große Zahl von neuen, engen und sehr guten Freunden gewonnen.

sueddeutsche.de: Wie kam es, dass Sie weißrussische Kinder mit Schilddrüsenkrebs behandelt haben?

Reiners: Ich bin 1992 in Essen zum ersten Mal mit einem Patienten konfrontiert worden. Damals lief ein siebenjähriger Junge mit seiner Mutter hilfesuchend über das Gelände der Uni-Klinik in Essen. Die Frau war nach Deutschland gekommen, weil ihr Sohn an Schilddrüsenkrebs erkrankt war und ihm die Ärzte in Weißrussland noch drei Monate zu leben gegeben hatten. Sie suchten nun nach einem Experten für diese Krankheit.

sueddeutsche.de: Und trafen zufälligerweise genau auf den richtigen Mann.

Reiners: Genau. Die Mutter hatte jemanden gefunden, der sich mit Schilddrüsenkrebs und Strahlenfolgen auskannte. Dieser erste Patient war für mich der Beweis, dass es in Weißrussland ein Problem mit Schilddrüsenkrebs nach Tschernobyl gibt, was amerikanische Kollegen zum damaligen Zeitpunkt schlichtweg leugneten.

sueddeutsche.de: Wie ging es dann weiter?

Reiners: Ich bin ein paar Monate darauf mit einer internationalen Delegation von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eingeladen worden, nach Weißrussland zu fahren. Anschließend wurde versucht, Geld aus den Mitgliedsstaaten der WHO zu bekommen, um Früherkennungsprogramme zu finanzieren.

sueddeutsche.de: Wie sahen diese Früherkennungsprogramme aus?

Reiners: Es waren vor allem Japaner, die mit mobilen Ultraschallgeräten durch die Gegend gefahren sind. Sie hatten orangefarbene Strahlenschutzanzüge an und sahen aus wie Mondmänner - im Grunde waren diese Schutzmaßnahmen unnötig. Die Japaner haben mit dieser Aktion der Bevölkerung eher Angst gemacht. Damals hat sich aber niemand Gedanken darüber gemacht, was mit den Kindern passieren soll, die bereits erkrankt sind. Es gab in Weißrussland schon mindestens 300 bis 400 Kinder, für die kein richtiges Behandlungskonzept existierte. Das hab ich dann als meine Aufgabe gesehen.

sueddeutsche.de: Wie haben Sie diese dann erfüllt?

Reiners: Ich bin seitdem etwa 20 Mal in Weißrussland gewesen und habe mich mit vielen Kollegen aus aller Welt getroffen, um Behandlungskonzepte festzulegen. Außerdem habe ich zusammen mit Kollegen etwa vier Millionen Euro gesammelt, die in Weißrussland in die Behandlungseinrichtungen und gemeinsame Forschungsprojekte geflossen sind. Weil man aber eine wirklich perfekte Nachbehandlung der Kinder dort nicht machen konnte, war es auch nötig, über Jahre hinweg Kinder mit besonders fortgeschrittenem Schilddrüsenkrebs nach Deutschland zu holen. So konnten wir 250 Kinder ziemlich erfolgreich behandeln. Insgesamt waren es tausend einwöchige Behandlungsaufenthalte.

sueddeutsche.de: Wie haben Sie sich denn mit den Kindern verständigt?

"Das Schönste sind Geburtsanzeigen."

Reiners: Wir haben einen Kinderarzt aus Tadschikistan eingestellt, der heute immer noch "die Seele" unserer Tschernobyl-Projekte ist. Außerdem leben sowohl in Essen als auch in Würzburg, wo ich später gearbeitet habe, viele Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion und so gab es immer auch Krankenschwestern, die bei der Verständigung helfen konnten und auf die Bedürfnisse unserer jungen Patienten eingegangen sind.

Tschernobyl

Insgesamt waren es 1000 einwöchige Behandlungsaufenthalte, die Reiners für die Kinder aus Weißrussland organisierte. Das Foto entstand 1993 in Würzburg.

(Foto: Privat)

sueddeutsche.de: Wie war ihr Verhältnis zu den Kindern?

Reiners: Das ist über die Zeit sehr gewachsen. Es ist toll, wenn ich heute zu Weihnachten immer noch Karten bekomme. Das Allerschönste sind aber Geburtsanzeigen von Kindern jener Kinder, die wir ursprünglich behandelt haben, und die heute junge Erwachsene sind. Insgesamt haben wir 110 "Enkel" - also von den 250 Kindern haben 110 ihre eigenen Kinder. Da werden wir mit Fotos fast überschüttet.

sueddeutsche.de: Warum haben Sie sich eigentlich entschieden, in Weißrussland zu helfen? Tschernobyl liegt doch in der Ukraine.

Reiners: Tschernobyl liegt nur zehn Kilometer von der heutigen weißrussischen Grenze entfernt und der ganze "Dreck" ist nach der Explosion am 26. April 1986 vorwiegend über Weißrussland runtergekommen. Das war ein unglücklicher Umstand, dem ich aber dennoch etwas Positives abgewinnen konnte.

sueddeutsche.de: Was war denn daran gut?

Reiners: Alexander Lukaschenko, der Präsident von Weißrussland, hat bestimmt, dass es in der Hauptstadt Minsk nur ein Krankenhaus gibt, in dem jedes Kind, bei dem auch nur der geringste Verdacht auf Schilddrüsenkrebs bestand, behandelt wurde. Diese Konzentration war eine ideale Voraussetzung für den Aufbau einer Kooperation mit mir und dem Krankenhaus. Ich wusste genau, wo welche Hilfe hin muss. Man brauchte eben nicht - wie es in der Ukraine war - 20 Krankenhäuser gleichzeitig auszustatten. In Minsk gibt es im Übrigen heute die von mir gegründete Stiftung "Arnica", die die ganzen Nachkontrollen übernimmt. Wir haben da eine kleine Praxisklinik, die auch der Stiftung gehört, und die Kollegen dort führen die Nachuntersuchungen sehr konsequent durch.

sueddeutsche.de: Warum verursacht Radioaktivität Schilddrüsenkrebs?

Reiners: Die menschliche Schilddrüse braucht Jod. Deswegen sollten wir alle Jodsalz essen, sonst können sich in der Schilddrüse Knoten bilden. Bei einem Kernreaktor-Unfall kann sehr viel radioaktives Jod freigesetzt werden, wobei hier vor allem Jod-131 mit einer Halbwertszeit von acht Tagen eine wichtige Rolle spielt. Das radioaktive Jod gelangte damals in höhere Schichten der Atmosphäre und wurde über weitere Strecken transportiert, bis es mit dem Regen wieder runterkam. Die Menschen haben es dann mit der Atemluft und mit der Nahrung aufgenommen, so dass sich das radioaktive Jod in der Schilddrüse angereichert hat.

"Die Japaner können sich sehr gut selbst helfen."

sueddeutsche.de: Hätten Jodtabletten helfen können?

Reiners: Ja, denn wenn man die Schilddrüse mit Jod "vollstopft", dann kann radioaktives Jod nicht mehr aufgenommen worden. Solche Tabletten standen aber in Weißrussland nicht zur Verfügung.

sueddeutsche.de: Es sind vor allem Kinder gewesen, die an Schilddrüsenkrebs erkrankt sind. Warum?

Reiners: Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass es den weißrussischen Kindern nicht verboten wurde, Milch von Kühen zu trinken, die radioaktives Gras gefressen haben. Eine weitere Erklärung ist aber, dass die kindliche Schilddrüse sehr viel strahlenempfindlicher ist als die erwachsene. Das liegt daran, dass sich die Zellen der wachsenden Schilddrüse eines Kindes häufig teilen, während dies bei einem Erwachsenen nur sehr selten passiert. Und diese Teilungsphase der wachsenden kindlichen Schilddrüse ist besonders sensibel gegen Strahlenwirkung.

sueddeutsche.de: Erkranken heute noch immer überdurchschnittlich viele Kinder in Weißrussland an Schilddrüsenkrebs?

Reiners: Heutige Kinder sind vollkommen unbetroffen. Nur die Menschen, die damals Kinder waren und deren Schilddrüsen das radioaktive Jod aufgenommen haben, leben heute mit dem erhöhten Risiko, im Erwachsenenalter an Schilddrüsenkrebs zu erkranken. Bis heute sind etwa 6000 Menschen durch das Tschernobyl-Unglück an Schilddrüsenkrebs erkrankt und ich schätze, dass sich diese Zahl auf etwa 15.000 bis 20.000 erhöhen kann. Glücklicherweise werden maximal fünf Prozent von ihnen sterben, was aber immer noch eine hohe Zahl ist.

sueddeutsche.de: Haben alle Kinder überlebt, die Sie behandelt haben?

Reiners: Leider nein. Von den 250 wirklich schwer erkrankten Kindern ist eines gestorben. Den anderen geht es allen sehr gut.

sueddeutsche.de: Hat Sie der Verlust schwer getroffen?

Reiners: Das kann man nur so sagen, denn es war genau der erste Patient, den ich 1992 in Essen gesehen habe. Dieser kleine Junge, der damals sieben Jahre alt war, ist am Ende 20 Jahre alt geworden. Er starb an den Folgen einer Behandlungsnebenwirkung. Seine Familie ist besonders anhänglich. Sie sagen mir immer wieder - was mich auch ein bisschen tröstet, dass diese 13 Jahre, die der kleine Pavel zusätzlich gehabt hat, ein Geschenk für die ganze Familie gewesen wären. Aber traurig ist es natürlich trotzdem.

sueddeutsche.de: Was denken Sie heute, wenn Sie die Bilder aus Fukushima sehen?

Reiners: Da wird extrem übertrieben, was das Risiko für die Bevölkerung im Hinblick auf Schilddrüsenkrebs angeht. In Japan wird häufig gedrängt, man müsse jetzt die Jodtabletten verteilen. Aber man kann Fukushima nicht mit Tschernobyl vergleichen. Dort herrschten ja ganz andere Verhältnisse: In dem explodierten Reaktor war eine viel größere Menge an radioaktivem Jod vorhanden, die über zehn Tage lang kontinuierlich freigesetzt wurde. Außerdem standen in Weißrussland und der Ukraine Vorbeugungsmaßnahmen, wie es sie heute gibt, überhaupt nicht zur Verfügung.

sueddeutsche.de: Also fahren Sie jetzt auch nicht nach Japan um dort zu helfen?

Reiners: Die Kollegen dort können sich nach meiner Einschätzung sehr gut selber helfen. Ich war vor acht Wochen an der Universität in Nagasaki zu einem Treffen der Strahlenunfallzentren der WHO. In Japan gibt es international anerkannte Strahlenexperten, die sich wegen den Erfahrungen, die man nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki medizinisch machen musste, bestens auskennen. Von denen kann auch ich noch was lernen.

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