50 Jahre später:Was von 1968 geblieben ist

Demonstrationen nach Attentat auf Dutschke

Teilnehmer des Ostermarsches demonstrieren nach dem Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April 1968.

(Foto: dpa)

War alles umsonst? Die Ideale und Utopien von damals werden aufleben, wenn die Enkel und Urenkel der Achtundsechziger beschließen, die Trumps und Gaulands, die Spießer von heute, nicht mehr auszuhalten.

Kommentar von Heribert Prantl

Im Berliner Wagenbach-Verlag, der in den Auseinandersetzungen von 1968 ff eine zentrale Rolle spielte, sind die wichtigsten Schriften von damals neu herausgegeben worden - die Schriften der APO über Rebellion und Revolution, Ungehorsam als Tugend, antiautoritäre Erziehung und die Fundamentalkritik am Kapitalismus. Dazu gehört ein Bändchen mit Texten von Rudi Dutschke; er war das Herz der Revolte. Vor 50 Jahren, am 11. April 1968, wurde dieser christlich-charismatische Revoluzzer von "vollkommener Lauterkeit" (so der Theologe Helmut Gollwitzer) von einem rechtsradikalen Attentäter angeschossen. Dutschke starb elf Jahre später, 39-jährig, an den Folgen des Attentats.

Dutschkes Texte über "das herrschende Falsche und die Radikalität des Friedens" tragen den Titel: "Geschichte ist machbar." Das stimmt. Sie kommt nicht einfach über einen. Die Frage ist nicht, was auf die Gesellschaft zukommt, sondern wohin sie gehen will und wer die Wegweiser aufstellt. Genau das ist es, was die alt gewordenen 68er fünfzig Jahre später so umtreibt: Warum machen heute die Falschen Geschichte? Warum triumphieren die populistischen Extremisten, warum sind die Trumps, Erdoğans und Orbáns obenauf, warum kann ein AfD-Politiker heute Deutsche mit ausländischen Wurzeln vor johlenden Anhängern straflos als "Kümmeltürken" beschimpfen?

Woher kommt diese negative Renaissance? 1967 gab in einer Repräsentativumfrage fast die Hälfte der befragten Deutschen an, dass der Nationalsozialismus eine im Prinzip gute Idee gewesen sei. Dann aber kam 1968, das Ende des Beschweigens der NS-Vergangenheit, es kam die antiautoritäre Protestbewegung. Und was kommt jetzt? In den Feuilletons fragen sich Alt-Achtundsechziger, ob "alles" umsonst gewesen sei. Diese Weinerlichkeit passt so gar nicht zu den koketten Happenings der jungen Kommunarden von damals und zur fröhlichen Autoritätskritik von '68. Was ist passiert?

Die Revoluzzer von gestern sind Autorität geworden - trotz aller Verirrungen, die es gegeben hat. Aus einer 68er-Bewegung, der die Revolution wichtiger war als die Demokratie, ist ein staatstragendes Milieu geworden; der utopische Überhang ist verschwunden. Aus einem Steinewerfer wie Joschka Fischer wurde ein ordentlicher Außenminister, der erste, der die Bundeswehr wieder in einen ordentlichen Krieg führte. Das zeigt die Integrationskraft der Demokratie und die Korruptionskraft der Macht, das lehrt aber auch, dass die systemkritischen Impulse ihre Kraft verloren haben.

Es gab nie ein 68er-Programm - aber es gab die Lust auf Aufruhr, die ausbrach aus den großbürgerlichen Wohnzimmern und den kleinbürgerlichen Küchen mit den abwaschbaren Plastikdecken auf dem Tisch; '68 brachte Groß- und Kleinbürgerkinder zusammen, Leute wie Cohn-Bendit und Fischer. '68 - das war Leidenschaft, Selbstüberschätzung, Selbststilisierung, das waren wirre Reden, Pamphlete, Witz und Aberwitz, scharfsinnige Kritik am Kapitalismus - und die Illusion, man könne Arbeiter zum revolutionären Subjekt machen.

Als 1968 begann, war es normal, dass die Musik der Jungen von den Alten als "Negermusik" geschmäht wurde. "Rübe runter" war Originalton Volk, "Euch hat man zu vergasen vergessen" war eine Reaktion, als die 68er Infostände gegen die Notstandsgesetze aufstellten. Die Springer-Presse hetzte, was das Zeug hielt. Dann kamen die Schüsse - 1967 auf den Studenten Benno Ohnesorg bei der Demo gegen den Schah; 1968 auf Rudi Dutschke. Diese Schüsse waren der Beginn des Aufruhrs.

Der noch junge, aber schon saturierte Staat hielt die 68er für apokalyptische Reiter. Die wiederum glaubten, der Staat sei unrettbar verseucht von Ex-Nazis und ihrem reaktionären Geist. Beide Seiten hielten sich zur Notwehr gegen die jeweils andere berechtigt; zur Notwehr fiel selbst einem Kanzler wie Willy Brandt so blühender Unsinn ein wie der Radikalen-Erlass, der die 68er vom Staatsdienst fernhielt.

Jürgen Habermas wurde 1988 gefragt, was von '68 geblieben sei. Er hat die bisher beste Antwort gegeben: "Frau Süssmuth" hat er gesagt. Er meinte die Fundamentalliberalisierung der Republik. Frauenemanzipation, Ökologie- und Anti-Atombewegung, die Friedensbewegung, eine entspießerte Sexualmoral, die umfassende Demokratisierung der Gesellschaft - das alles ist Erbe von '68, auch der klare scharfe Blick auf den Nationalsozialismus.

Gewiss: Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit haben vorher schon andere betrieben, der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zum Beispiel. Und sexuelle Liberalisierung ging von Knef/Kolle/Uhse aus. Aber die Ungebärdigkeit der 68er hat alldem Power gegeben. Der kulturelle Umbruch von '68 war und ist der nachhaltigste Umbruch der Gesellschaft seit 1945. Die Kraft des Umbruchs zeigt sich darin, wie sich Rechtskonservative und AfDler daran abarbeiten.

In fast jedem Deutschen steckt ein 68er, auch in denen, die nicht halb so alt sind. Bei den einen ist es so, dass sie, oft ohne es zu wissen, vom 68er-Erbe zehren; bei den anderen ist es so, dass sie enttäuschte Hoffnungen und ungelöste Lebensprobleme auf das Wirken der 68er zurückführen. Kurz: Die Bundesrepublik ist ein verachtundsechzigter Staat.

Die jüngsten Alt-68er sind jetzt 68 Jahre alt, die meisten 78. Mit ihnen geht eine Epoche zu Ende, deren Ideale und Utopien neue Kraft gewinnen können, wenn die Enkel und Urenkel der 68er beschließen, die Trumps und Gaulands, die Spießer von heute, nicht länger auszuhalten. Bis dahin lebt die Demokratie damit, was der wilde Zauber jener Jahre hinterlassen hat.

"Tod und Verklärung" heißt die Tondichtung für großes Orchester von Richard Strauss. Das Stück ist 130 Jahre alt; es passt trotzdem zum 68er-Jubiläum: Man hört pochendes Pathos, Aufbegehren, Resignieren und die Seligkeit der Erinnerung. Am Ende des Stücks hat sich Vergängliches ins Ursprüngliche verwandelt. So geht Hoffnung.

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