20 Jahre Mauerfall:Die Unvollendete

"Die Einheit ist vollendet": Die DDR war noch nicht richtig geschluckt, da wurde sie im Grundgesetz schon für verdaut erklärt

Heribert Prantl

Die deutsche Einheit ist vollendet. So steht es im Grundgesetz. Zwar gibt es einiges, was diese Vollendung stört. Etwa die Arbeitslosigkeit. Sie ist in Ostdeutschland erheblich höher als in Westdeutschland. Aber das macht nichts, denn: Die deutsche Einheit ist vollendet. Zwar verdienen die Menschen im Osten weniger als die im Westen, sie haben auch weniger auf dem Sparkonto.

20 Jahre Mauerfall: Seit dem 29. September 1990 steht die Vollendung der Deutschen Einheit im Grundgesetz.

Seit dem 29. September 1990 steht die Vollendung der Deutschen Einheit im Grundgesetz.

(Foto: Foto: AP)

Überhaupt: Sie sind viel weniger als früher, es leben fast zwei Millionen Menschen weniger im Osten als 1989. Die Universitäts-Städte im Osten sind zwar höchst attraktiv, doch es wandern noch immer viel mehr junge Menschen ab als aus dem Westen zu. Aber das alles muss einen nicht weiter kümmern, denn wie gesagt: Die Einheit ist vollendet.

Vollendet? Das klingt nach dem Abschluss eines Werks, nach Erfüllung des Auftrags, nach umfassendem Wohlbehagen und zufriedenem Finale. Vollendet ist ein Gemälde, wenn der Künstler den letzten Pinselstrich gesetzt hat und dann stolz sein Signet in die untere Ecke setzt.

Wäre zu solcher Zufriedenheit wirklich Anlass, dann müssten nicht jährlich immer noch hundert Milliarden Euro aus den alten in die neuen Bundesländer fließen - und dann würden nicht immer neue Studien die Deutschen danach fragen, ob und wie zufrieden sie mit der Einheit sind. Sie sind es immer weniger.

"Einheitslust und Einheitsfrust" heißt eine Langzeitstudie von Hendrik Berth, Peter Förster, Elmar Brähler und Yve Stöbel-Richter, aus der sich zwar ergibt, dass die Mehrheit der jungen Ostdeutschen die Wiedervereinigung für richtig hält, dass aber andererseits die "richtige Gemeinschaft" zwischen Ost und West nach Meinung der meisten in immer weitere Ferne rückt: 1990 meinten die Befragten noch, in sechs Jahren werde die "wirtschaftliche Angleichung" und in acht eine "richtige Gemeinschaft" erreicht sein.

Heute heißt es, erst in 23 Jahren werde es so weit sein. Die tatsächliche deutsche Einheit verwandelt sich so in eine Utopie. Gleichzeitig sinkt die Zustimmung zum Gesellschaftssystem: 1992 waren 72 Prozent noch damit zufrieden, heute sind mit der Demokratie nur noch ein Drittel, mit der Wirtschaftsordnung und dem politischen System nur noch ein Viertel einverstanden. Sieht so die Vollendung der Einheit aus?

Vollendung? Es ist nicht irgendein Festredner, der sich da zum zwanzigsten Jahrestag des Falls der Mauer in der Formulierung vergriffen hätte. Es steht so im Grundgesetz. Seine Präambel stellt apodiktisch fest, dass die Deutschen "die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet" haben - sozusagen ein für allemal.

Seit dem 29. September 1990 steht es so im Grundgesetz; im Einigungsvertrag war das so vereinbart worden. Die DDR war vom Westen noch nicht einmal richtig geschluckt, da wurde sie auch schon für verdaut erklärt.

Vierzig Jahre lang hatte in der Präambel der Verfassung die klassische Formel gestanden, das deutsche Volk gebe sich dieses Grundgesetz "von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren"; das Volk bleibe aufgefordert, "die Einheit und Freiheit zu vollenden". Damit war eigentlich nicht nur eine deutsche, sondern die ewige Aufgabe eines demokratischen Gemeinwesens beschrieben: Seine Einheit kann ja nie einfach vorausgesetzt, sondern muss durch ständiges politisches Mühen immer wieder gewährleistet werden.

Aber das war damals, im Rausch der Ereignisse von 1989/90 vergessen: Die Einheit galt nicht als ein Prozess, schon gar nicht als immerwährender Prozess, sondern als einmaliges Ereignis. Sie wurde also im Grundgesetz abgehakt - an dessen Anfang, in der Präambel, und an dessen Schluss, im Artikel 146. Das Grundgesetz beschreibt seitdem einen Zustand, den es noch lang nicht gibt: die Vollendung der Einheit.

Es gehört dies, so kritisierte der Freiburger Politologe Wilhelm Hennis schon 1993, "zu den Unbegreiflichkeiten der verfassungsrechtlichen Umsetzung des Einigungsprozesses". Ganz unbegreiflich ist das freilich nicht: Die Beteuerung der "Vollendung" war einerseits Hybris, andererseits aber auch Teil des deutschen Bemühens, den irritierten Partnern in Paris und London zu versichern, dass es keine weiteren Gebietsansprüche mehr gibt - dass also die Einheit nicht noch auf die Gebiete östlich von Oder und Neiße ausgreifen und es keine weiteren "Beitritte" mehr geben soll.

"Die Einheit ist vollendet"

Aber die Vollendungs-Behauptung blieb auch dann im Grundgesetz, als solche Befürchtungen der Staatenwelt sich zerstreut hatten und klar geworden war, wie schwer der Weg zur inneren Einheit werden würde.

"Die Einheit ist vollendet": Der Satz erklärt, warum diese Verfassung keinen Beitrag mehr geleistet hat zur Integration der ostdeutschen Bürger in den Staat des Grundgesetzes - der Beitritt der DDR nach Artikel 23 war ja Vollendung. Und das Grundgesetz war jetzt im Verständnis der Regierung Kohl die durch den Beitritt nobilitierte, also vollendete Verfassung Deutschlands. Deswegen blieben alle Anläufe zu einer Verfassungsreform vergeblich; deswegen hatten die Bürgerrechtler aus dem Osten keine Gelegenheit, ihre Erfahrungen, ihre Erkenntnisse, ihr Lebensgefühl ins Grundgesetz einzubringen; deswegen blieb das, was die runden Tische formulierten, belächelte Fingerübung.

In der Verfassungskommission von Bund und Ländern, die in den Jahren 1992 und 1993 den im Einigungsvertrag formulierten Auftrag hatte, das Grundgesetz zu reformieren, wurde von den Regierungsparteien alles, was irgendwie nach Osten klang, abgebürstet.

Die SPD stellte 1992 den Antrag, das "Bestreben, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden" wieder in die Präambel zu schreiben - es fand dies keine Mehrheit. Die Aufnahme einer solchen Staatszielbestimmung, so hieß es ablehnend, "könnte dahingehend missverstanden werden, dass die Politik eine Vollendung der Einheit in absehbarer Zeit nicht für möglich halte und deshalb zur dauerhaften Staatsaufgabe erkläre". Man könne aber "davon ausgehen, dass dieses Ziel in mittelfristiger Zeit erreicht werde".

Chancenlos war auch der Antrag des Ost-Abgeordneten und Pfarrers Wolfgang Ullmann vom Bündnis 90, der im Grundgesetz die besondere Verpflichtung gegenüber den Opfern deutscher Gewaltherrschaft hervorheben, auf die Leistung der demokratischen Revolution hinweisen und sodann ans Ende der Präambel die Entschlossenheit schreiben wollte, "ein demokratisches und solidarisches Gemeinwesen zu erneuern, in dem das Wohl und die Stärke aller aus dem Schutz der Schwachen erwächst".

Nein, das war dem Westen, das war dem Parlament in Bonn zu ostdeutsch. Das schmeckte nach zu viel, nach einer Neugründung der wiedervereinigten Republik - die ja doch schon "vollendet" war. Die Verfassungsdiskussion leistete also keinen Beitrag zur Integration der ostdeutschen Bürger in den neuen gesamtdeutschen Staat.

Das Grundgesetz blieb so, wie es vorher gewesen war; die Verfassungskommission der Jahre 1992/93 war kein Marktplatz für ostdeutsche Erfahrungen, kein Forum für gesellschaftliche Selbstverständigung - sondern ein Institut zur Beerdigung von Reformanträgen.

Die gesetzgebenden Körperschaften sollten sich, so lautete eigentlich der Auftrag des Einigungsvertrags an die Verfassungskommission, mit "den im Zusammenhang mit der Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes befassen".

Aber daraus wurde eine traurige Veranstaltung. Wer seine gute Laune begraben und sich seine Lust auf Politik vergällen lassen wollte, der tat dies in den Jahren 1992/93, immer am Donnerstag, rasch und erfolgreich an diesem Ort: Bonn, Fraktionssitzungssaal 12, Deutscher Bundestag, Eingang IV. "Man arbeitet hier", so sagte es der frühere SPD-Justizminister Jürgen Schmude , "wie unter einer steinernen Grabplatte", immer im Gefühl: "Gleich fällt sie herunter."

Die gefräßige Aufbau-Maschine

An einem Donnerstagabend im April 1993 trug der Sekretär der Verfassungskommission einen Bericht über die "Eingaben" vor, die bisher bei ihm eingegangen waren - siebenhunderttausend waren es seinerzeit gewesen: 266319 forderten plebiszitäre Elemente im Grundgesetz, 141 070 wollten den Tierschutz in der Verfassung verankert wissen, 83820 Eingaben beschäftigten sich mit dem Schutz von Minderheiten, 75165 forderten die Gleichstellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit der Ehe.

Die meisten dieser Eingaben, es wurden noch achthunderttausend, viele waren aus dem Osten, blieben unbeantwortet. Das Sekretariat der Verfassungskommission hatte viel zu wenig Personal, und Helmut Kohl und die Unionsfraktion hatten keine Lust auf Verfassungsarbeit; so wenig, dass selbst ihrem Verfassungsobmann Rupert Scholz der Kragen platzte. "Wir tagen wie der Wiener Kongress", befand Burkhard Hirsch von der FDP- es geht immer dahin und es passiert nichts. So also war die Verfassungsreform nach der deutschen Einheit. Sie war die vollendete Abwiegelei.

Beim Aufbauen und Zupacken im Osten war der Westen nicht pingelig. Die Aufbau-Maschinerie fraß das, was im Osten schlecht gewesen war ebenso wie das, was dort gut gewesen war: Sie fraß die alte Ost-Elite, sie fraß die Politiker der ersten Wende-Stunde; sie fraß auch den Stolz der Ostdeutschen, ihre Sicherheit, ihr Selbstvertrauen und die Lust, den neuen Staat mitzugestalten.

Die Menschen im Osten waren nicht Anpacker, sie wurden angepackt. Sie hatten die Mark gerufen, dann rollte die Marktwirtschaft über sie hinweg. Der Einheitsfrust, die relativ geringe Akzeptanz der bundesdeutschen Institutionenordnung, hat ihre wesentliche Ursache in der "bemerkenswerten Unmaßgeblichkeit des ostdeutschen Beitrags zum Gelingen der deutschen Einheit", meint Detlef Pollack, Kultursoziologe an der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

Es ist ein Zynismus der deutschen Geschichte: Diejenigen, die die Einheit ermöglicht haben, sind bei ihrer Bewerkstelligung ausgeschaltet worden.

Und deshalb ist es zum zwanzigsten Jubiläum des Mauerfalls so: Die "Vollendung" der Einheit ist zu früh und zu überheblich ausgerufen worden; es muss noch hart daran gearbeitet werden. Die Vollendung ist noch lange nicht vollendet.

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