100 Jahre Erster Weltkrieg:Wie der Krieg uns bis heute prägt

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Wohl in jeder Familie gibt es Geschichten vom Ersten Weltkrieg. Sie handeln häufig nicht von der Front, sondern vom Schmerz daheim. Erinnerungen an Papa-Amputierte, Opa-Amputierte und das Nachkriegsgeschehen vor der eigenen Haustür.

Von Kurt Kister

Wie vergangen muss ein Ereignis sein, damit es Geschichte wird? Es heißt oft, solange Menschen sich an etwas erinnern, das sie selbst noch von älteren Zeitzeugen erzählt bekommen haben, so lange ist ein Ereignis, ein Prozess, eine Folge von Geschehnissen zwar nicht mehr Gegenwart, aber dennoch auch noch nicht Geschichte.

Man spricht von "kommunikativer Erinnerung", weil sich viele zum Beispiel an die Erzählungen von Eltern und Großeltern erinnern und damit noch einen persönlichen Bezug zu den überlieferten Ereignissen haben.

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Natürlich ist diese kommunikative Erinnerung doppelt subjektiv. Das ist einmal die sehr persönliche Auswahl derer, die aus ihrer Zeit und ihrem Leben erzählt haben. Zum anderen kennt fast jeder den Prozess, wenn etwas aus der eigenen Erinnerung allmählich in die Tiefen des Gedächtnisses rutscht und sich dort mit Gelesenem, Gesehenem und Gehörtem vermischt.

Nach ein paar Jahren besteht die eigene kommunikative Erinnerung aus einer Melange von Reminiszenzen an die Geschichten der Oma und des Großonkels, an Fernsehdokumentationen, Büchern und irgendwie verarbeiteten Gesprächen mit anderen.

Ein Beispiel? Für mich - und in diesem Fall sei die persönliche Form gestattet - ist der Erste Weltkrieg mit dem Birgmann-Bräu in Dachau verbunden. Als Kind besuchte ich in den frühen Sechzigerjahren an der Hand meiner Oma, einer sogenannten Kriegerwitwe, die VdK-Versammlungen im Saal des Birgmann-Bräus.

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Da gab es die Papa-Amputierten, die aus dem vor damals 20 Jahren zu Ende gegangenen Zweiten Weltkrieg, und es gab die Opa-Amputierten, die um die Jahrhundertwende oder davor geboren waren und ihre Gliedmaßen 1914 an der Marne oder 1916 vor Verdun verloren hatten. Die jüngeren und die älteren Versehrten ließen sich gleichermaßen den Schweinsbraten schmecken, den es bei den vierteljährlichen Versammlungen des Verbands der Kriegsbeschädigten zu essen gab.

Meine Oma, Jahrgang 1899, war Kriegerwitwe, weil ihr Mann, Jahrgang 1892, den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt hatte. Den Ersten Weltkrieg hatte er von Anfang bis Ende mitgemacht, und zwar in der 3. Eskadron des 4. bayerischen Chevauleger-Regiments, das in Augsburg stationiert war.

Der Opa, den ich nie kennengelernt habe, aber aus Erzählungen zu kennen glaubte, war Kavallerist in einem sogenannten Traditionsregiment, dem er im November 1913 beitrat, weil er schon als junger Bursche Pferdeknecht beim Fürsten Fugger in Babenhausen war. Mit den leichten Reitern, den Chevaulegers, war der Opa im Westen, im Osten und sogar im Alpenkorps gegen die Italiener eingesetzt. Etliche Orden wurden ihm verliehen, er trug "einen ganzen Schüttelrahmen", wie meine Oma immer sagte.

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Nur eine kleine Aktentasche mit etlichen Papieren des Großvaters ist übrig geblieben. Ein Arbeitszeugnis von 1912, ein Entlassungsschein für den Gefreiten vom Dezember 1918, eine Urkunde über die Verleihung des bayerischen Militärverdienstkreuzes 3. Klasse mit Schwertern vom März 1915. Sein Weltkrieg, ein Teil meiner "kommunikativen Erinnerung".

Es gibt wohl in jeder Familie in Bayern und anderswo in Deutschland solche Geschichten. Sie haben nicht häufig wirklich mit dem Krieg, also der Front, dem Töten, der Gefahr und der Angst zu tun, sondern viel mehr mit Entbehrungen daheim, mit Hunger, mit seelischem Schmerz und Trauer, weil einer "draußen geblieben" ist oder weil aus einer Familie zwei Brüder nicht wiederkamen und einer nur als Schwerverletzter.

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Das hängt nicht nur mit der gesteigerten Aufmerksamkeit wegen der hundertsten Wiederkehr des Kriegsbeginns zusammen, sondern eben auch damit, dass die Erinnerungen an die Erzählungen in den Familien jetzt gerade noch lebendig sind.

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Zwar wurde der Erste Weltkrieg nicht in Deutschland geführt, so dass das Reich, wie man damals sagte, weitgehend von Zerstörungen verschont blieb. Und dennoch hat dieser Massenkrieg das Leben in den Städten und Dörfern verändert, so sehr verändert wie kein anderer Krieg das seit dem Dreißigjährigen Krieg getan hat.

Gewiss, der Zweite Weltkrieg zerschlug auch in Deutschland viel mehr als jeder andere Krieg. Aber der Weltkrieg von 14/18 beschleunigte vielerorts die Industrialisierung, veränderte die Sozialstruktur, politisierte breitere Schichten.

Die Niederlage 1918 bedeutete auch das Ende des überkommenen Systems der Adelsherrschaften. Was in Bayern einst kritische, dann hurrapatriotische Volksschriftsteller wie Ludwig Thoma oder Georg Queri als die "gute, alte Zeit" verklärt hatten, zerbröselte unversehens.

Nach dem Tod der Identifikationsfigur Prinzregent Luitpold 1912 torkelte die Monarchie ihrem Ende entgegen, gestürzt wurde sie ausgerechnet in der Residenzstadt von Sozialdemokraten, Sozialisten und Anarchisten. Auch die Münchner Räterepublik, jenes kurzlebige, zum Scheitern verdammte Experiment, war eine Folge des Weltkriegs.

Ein Blick auf München zeigt auch, wie der Krieg diese Stadt verändert hat. Zunächst einmal brauchten Handel, Handwerk und Fabriken Ersatz für die Zehntausende, die 1914 unter der Pickelhaube ausgezogen waren und 1918 unter dem Stahlhelm immer noch dienten, wenn sie nicht gefallen oder verwundet worden waren. Viele Frauen begannen auch deswegen mit eigener Erwerbsarbeit.

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Weil die Lebensmittelversorgung mit der immer längeren Kriegsdauer schwieriger wurde, entstanden an vielen Stellen in der Stadt und an den damaligen Rändern der Stadt Gärtnereien, Schreberparzellen und Privatfelder. Man versuchte anzubauen, was man nicht mehr kaufen konnte.

Der Krieg führte auch dazu, dass in der Landeshauptstadt, aber auch in Augsburg, Nürnberg und anderswo Manufakturen zu Fabriken wurden, in denen man kriegsrelevante Dinge herstellte: Motoren bei Rapp in München, 1917 in BMW umbenannt; Maschinen und Motoren bei MAN in Augsburg; Lokomotiven bei Maffei oder bei Krauss in Allach; Munition in vielen kleineren Fabriken rund um München, zum Beispiel auch in Dachau.

Zahlreich waren in München die Kasernen, in denen die Stamm- und Ausbildungseinheiten für die Truppen an der Front stationiert waren. Auf dem Oberwiesenfeld lagen die Luftschiffer, in Oberschleißheim etablierte sich die kurzlebige königlich bayerische Luftwaffe.

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Die Süddeutsche Zeitung will mit dieser Beilage und der anschließenden Serie schildern und analysieren, wie dieser 100 Jahre ferne und dennoch relativ nahe Krieg Bayern geprägt und verändert hat. Es gibt viel zu erzählen, weil sich noch viele erinnern.

Apropos erzählen: Mein Großvater, der dekorierte Chevauleger des Ersten Weltkriegs, starb im April 1945 in Uniform. Es war die graugrüne Uniform der SS, der er sich schon in den Zwanzigerjahren angeschlossen hatte. Er gehörte von 1933 an zu der Wachmannschaft des KZ Dachau, das die Nazis als das erste organisierte Konzentrationslager in Deutschland errichten ließen. Der Ort war die ehemalige Munitionsfabrik aus dem Ersten Weltkrieg.

Nein, so weit liegt der wahrlich nicht zurück.

© SZ vom 02.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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