100 Jahre Erster Weltkrieg:Immer wieder Krieg

Erster Weltkrieg - Westfront

Soldaten an der Westfront 1915: Die Folgen der "Urkatastrophe Europas" beeinflussen die internationale Politik bis heute.

(Foto: dpa)

Hat die Welt aus der Katastrophe von 1914 gelernt? Trotz aller Konflikte und Rückschläge der vergangenen 100 Jahre: Es gibt Grund zu vorsichtigem Optimismus.

Ein Gastbeitrag von Joschka Fischer

In diesem Jahr ist es hundert Jahre her, dass der Erste Weltkrieg begann, und dies sollte Anlass sein, darüber nachzudenken, was die Urkatastrophe Europas die Gegenwart zu lehren hat. Denn die Folgen des Attentats in Sarajewo im Juni 1914 beschäftigen die internationale Politik und das globale Staatensystem bis heute.

Noch heute plagt sich ein großer Teil der nördlichen Hemisphäre mit den Hinterlassenschaften der großen europäischen Imperien. Die meisten sind im Gefolge des Ersten Weltkriegs zusammengebrochen, die Reiche der Habsburger, der Zaren und Osmanen; aber auch der Untergang des Britischen Empire begann mit diesem Krieg, der Zweite Weltkrieg besiegelte ihn. Dieser imperiale Kollaps hat Bruchzonen zurückgelassen, die bis in die Gegenwart hinein hohe Risiken für den regionalen oder gar Weltfrieden beinhalten. Besonders gilt das für den Balkan, den Nahen und Mittleren Osten.

Prekärer Frieden im Balkan

Nach dem Ende des Kalten Krieges - der das Ende des unter kommunistischen Vorzeichen erneuerten russischen Imperiums mit sich brachte - kehrte der Krieg auf den Balkan zurück, unter ähnlichen Vorzeichen wie 1914. Erneut gingen sich dort im auseinanderbrechenden Jugoslawien die Vertreter aggressiver Nationalismen gegenseitig an die Gurgel, angeführt von Slobodan Milošević, dem Propagandisten Großserbiens. Dieser war freilich nicht allein. Europa drohte damals für einen Augenblick in die Konfrontation von 1914 zurückzufallen: Paris und London unterstützten Serbien, Bonn und Wien Kroatien.

Es kam jedoch nicht zu diesem Rückfall. Der Westen hatte aus seiner furchtbaren Geschichte gelernt, nach langem qualvollen Zuwarten. Ob dies jedoch ohne das Eingreifen der USA dem Balkan den (brüchigen) Frieden zurückgebracht hätte, darf bezweifelt werden. Drei Dinge haben die Nationalismen auf dem Balkan in die Schranken gewiesen: die Präsenz der USA und ihrer Militärmacht, der Fortschritt der europäischen Integration und der Abschied Europas von der Großmachtpolitik. Man sollte sich jedoch nichts vormachen: Nur solange die Nationen des Balkans an die EU und an die Perspektive der Mitgliedschaft glauben, wird der prekäre Frieden in dieser Region von Dauer sein.

Die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens wurden im Wesentlichen von den beiden europäischen Mächten Großbritannien und Frankreich geschaffen. Der französische Spitzendiplomat François Georges-Picot und sein britischer Kollege Mark Sykes teilten 1916 in einem Geheimabkommen die Region auf ; auch die spätere Gründung Israels geht auf die "Balfour-Erklärung" des britischen Außenministers aus dem Herbst 1917 zurück, mit der die spätere britische Mandatsmacht die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina unterstützte.

Das Ende von Sykes-Picot

Trotz aller Kriege und Konflikte: Der damals geschaffene Nahe Osten existiert mehr oder weniger heute noch. Gegenwärtig allerdings sind wir Zeugen seines Zerfalls, denn der Nahe Osten von Sykes und Picot setzte immer eine starke externe Hegemonialmacht (oder auch zwei) voraus, die in der Lage und willens war, die Konflikte in dieser Region zu kanalisieren oder zu unterdrücken. Erst waren dies England und Frankreich, dann die USA und die Sowjetunion, schließlich die USA allein.

Das amerikanische Abenteuer im Irak und die Erschöpfung der Weltmacht haben nun das Ende des Sykes-Picot-Systems eingeleitet. Die USA wollen und können ihr Engagement in dieser Region nicht auf diesem Niveau aufrechterhalten, es steht aber auch keine andere externe Ordnungsmacht zur Verfügung. Das entstandene Vakuum verursacht chaotische Entwicklungen: der Terrorismus, verschiedene Strömungen des Islams, soziale und politische Bewegungen versuchen die Leere zu füllen, nationale oder religiöse Minderheiten oder regionale Akteure mit Vorherrschaftsambitionen wie Iran und Saudi-Arabien.

Chaotische Instabilität im Nahen Osten

Die erzwungene Stabilität des alten Nahen Ostens wird durch eine chaotische Instabilität abgelöst; sie wird vor den Grenzen, wie sie Sykes und Picot einst zogen, kaum haltmachen. Dies legen die Entwicklungen in Syrien und im Irak nahe, selbst die Frage nach der Zukunft Libanons und Jordaniens könnte sich bald stellen.

Eine der wenigen positiven Nachrichten aus dieser an Gefahren so reichen Region ist, dass es dort gegenwärtig keine Weltmachtrivalitäten gibt. Umso gefährlicher könnte allerdings der regionale Hegemonialkonflikt zwischen Iran, Saudi-Arabien mit Israel in der dritten Position werden, zumal alle Akteure in dieser Region tief im Denken traditioneller Machtpolitik verhaftet bleiben. Regionale kooperative Konfliktlösungsstrukturen und -traditionen existieren dort kaum.

Die größte Besorgnis allerdings muss die Erinnerung an den Sommer 1914 in Ostasien auslösen. Denn dort ballen sich - fast wie aus dem Geschichtsbuch abgeschrieben - alle Ingredienzien der damaligen Katastrophe: Die Region ist hochgerüstetet, was heute heißt: Sie verfügt über Atomwaffen. Es gibt in China eine aufstrebende Weltmacht, es gibt Großmächterivalitäten, offene Territorial- und Grenzfragen, den Konflikt auf der koreanischen Halbinsel, offene historische Rechnungen, Prestigedenken und kaum kooperative oder gar integrative Konfliktlösungsmechanismen, sondern Machtdenken pur und überall Misstrauen.

Anlass zu Optimismus

Weshalb es dennoch Anlass zu Optimismus gibt? Erstens die fortdauernde Präsenz der Weltmacht USA als stabile Balance; zweitens der Schrecken der Nuklearwaffen; und drittens eine durch die Globalisierung verursachte und sich immer weiter verstärkende gegenseitige Abhängigkeit. Ohne diese drei Faktoren allerdings bestünde in Ostasien die akute Gefahr eines großen Krieges.

Das zeigt: Die Welt seit jenem Sommer 1914 hat sich dramatisch verändert. Vor hundert Jahren lebten zwei Milliarden Menschen, heute gibt es mehr als sieben Milliarden, die weltweit vernetzt sind; das schafft gegenseitige Abhängigkeiten und zwingt zur Kooperation. Dann kann im Zeitalter der Nuklearwaffe der Krieg kein Instrument der Machtpolitik unter Großmächten mehr sein: Die Atombombe macht die gegenseitige Zerstörung gewiss. Und schließlich sind nach wie vor die USA ein Ordnungsfaktor, auf den die Welt nicht verzichten kann.

Die Welt, das Denken und die Strukturen der internationalen Diplomatie haben sich in diesen hundert Jahren sehr verändert. Bei allen furchtbaren Konflikten: Die Gefahr eines Weltkrieges ist geringer geworden. Aber vergessen wir nicht: Im Sommer 1914 hielten die meisten Akteure die kommende Katastrophe nicht für möglich. Und sie geschah trotzdem!

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