20 Jahre Einheitsvertrag:Kränkung statt Liebe

Kleingeist in einem historischen Moment: Eigennutz und parteipolitisches Kalkül prägten die Verhandlungen zum Einigungsvertrag. Dass die Ostdeutschen zurückgewiesen wurden, vergiftete die Atmosühäre.

Jens Bisky

Wenn sie über die Einheit streiten, dann ergreifen Deutsche aus allen Himmelsrichtungen gern die Gelegenheit, einmal einzuschnappen, von Herzen übelzunehmen, beleidigt zu sein. Noch lieber erklären sie, dass sie schon immer recht gehabt haben. Daher ist die öffentliche Diskussion über Geschichte und Gegenwart der Vereinigung im routinierten Austausch von Rechthaber-Floskeln erstarrt. Das aber schadet der Einheit. Dieses größte und noch unvollendete politische Projekt der deutschen Nachkriegsgeschichte hätte mehr Aufmerksamkeit, mehr Diskussion, vor allem aber mehr Sorgfalt beim Streiten verdient.

Einigungsvertrag vor 20 Jahren besiegelte DDR-Ende

Am 31. August 1990 wird Geschichte geschrieben: Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (links) und DDR-Staatssekretär Günther Krause unterzeichnen die Urkunden zum Einigungsvertrag.

(Foto: dpa)

Man sollte also genau hinhören, wenn Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck, einer der anständigsten und erfolgreichsten Politiker in Ostdeutschland, zu erklären versucht, warum er nun nicht das 20. Jubiläum der Unterzeichnung des Einigungsvertrags feiert. Er war 1990 grüner Volkskammer-Abgeordneter und mithin gegen den Beitritt zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes. "Wir wollten ein gleichberechtigtes Zusammengehen mit neuer Verfassung und neuer Hymne", hat er jetzt gesagt. Am Tag des Beitritts habe "auch die gnadenlose De-Industrialisierung Ostdeutschlands" begonnen.

Voll Unbehagen kommt Platzeck immer wieder auf die "westdeutsche Haltung des Jahres 1990" zu sprechen: "Diese 'Anschlusshaltung' ist verantwortlich für viele gesellschaftliche Verwerfungen bei uns nach 1990. Es fehlten selbst kleinste symbolische Gesten gen Osten."

Diese inzwischen eifrig kritisierten Äußerungen klingen zunächst seltsam verquer. Denn es gab 1990 in den Bundesländern, die sich anschickten, die "alten" zu werden, keine "Anschlussgesinnung". Im Gegenteil. Sehr viele der damals befragten Bundesbürger standen der Vereinigung skeptisch, distanziert, abwartend gegenüber. Anders als im Osten überwogen Sorgen. Unter halbgebildeten Wessis wurde es Mode, wortreich darzutun, dass Florenz, Paris oder Venedig dem eigenen Gemüt so viel näher lägen als Leipzig, Rostock oder Halle.

Die Ministerpräsidenten der alten Bundesrepublik sorgten dafür, dass partikularistischer Kleingeist die Verhandlungen zum Einigungsvertrag vergifteten. Das hatte mit der schäbigen Kampagne des SPD-Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine gegen Übersiedler aus dem Osten begonnen und setzte sich fort bis hin zur Debatte über die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs oder den Sitz der Hauptstadt.

Die von allen damals empfundene Einzigartigkeit des historischen Geschehens schloss selbstsüchtiges Agieren keineswegs aus. Eigennutz und partei- oder länderpolitisches Kalkül prägten auch 1990 Diskussionen und Verhandlungen. Jedermann gönnte den Ostdeutschen den Reisepass sowie das Ende von Zensur und Überwachung, aber dass sie den Auftrag des Grundgesetzes zur Einheit ernst und wörtlich nahmen, missfiel gar nicht so wenigen.

Lesen Sie weiter, wie die gesamte ostdeutsche Volkswirtschaft verhökert wurde und welche Kräfte den Einigungsvertrag prägten.

Wilde Jahre der Transformation

Gewiss wäre ein langsamerer Gang der Ereignisse einfacher, wäre eine neue gemeinsame Verfassung für die Stimmung im geeinten Land besser gewesen. Allerdings waren beide Wünsche 1990 ebenso illusorisch wie vernünftig. Die Mehrheit der Ostdeutschen drang auf eine rasche Vereinigung; und es sah einen Augenblick so aus, als könnten einige Westdeutsche die Einheit am Abtreibungs-Paragraphen 218 scheitern lassen. Seit Einführung der D-Mark in der DDR zum politisch gewollten Umtauschkurs eins zu eins am 1. Juli gab es zum raschen Beitritt keine Alternative mehr.

Das heißt allerdings nicht, dass alles, was dann in den wilden Jahren der Transformation bis 1994 geschah, ohne Alternative gewesen wäre.

Verhängnisvoll war die Politik der Treuhandanstalt, die die volkseigenen Betriebe der DDR übernahm. Die Verhökerung einer ganzen Volkswirtschaft auf einmal, ergänzt durch aberwitzige, unzeitige Lohnerhöhungen und eine noch aberwitzigere staatliche Förderung von Kapitalinvestitionen, führte zum beinahe sofortigen Zusammenbruch der ohnehin technologisch rettungslos veralteten, auf freien Märkten nicht lebensfähigen DDR-Industrie.

Im Oktober 1990 hatte man noch gehofft, die Privatisierung der Staatsbetriebe werde 600 Milliarden D-Mark einbringen. "Anschlusshaltung"? Die Bilanz der Treuhand ergab schließlich ein Defizit von 230 Milliarden Mark. Steuerzahler in Ost und West mussten und müssen es tragen.

Der Einigungsvertrag selber war das Ergebnis eines einmaligen Kompromisses. Es trafen aufeinander: der Idealismus und die Kraft der deutschen demokratischen Revolutionäre (die sich etwa in Fragen der Kultur oder der Stasi-Akten durchsetzten), die erprobte bundesrepublikanische Verwaltung, die 1990 ihre große Stunde erlebte, sowie das Drängen der DDR-Bürger, die in ihrer Mehrheit rasch Bundesbürger werden wollten.

Dass man sie dabei regelmäßig zurückstieß, als seien sie, wie "Ekel Alfred" meinte, keine "richtigen Deutschen", hat die Atmosphäre vergiftet. Dies ist die ursprüngliche Beitrittskränkung - die zurückgewiesene Liebe der Ostdeutschen zur Bundesrepublik. Vorurteile, Missverständnisse und Transformationsstress hat man überwunden, aber das Empfinden, nicht gut genug gewesen zu sein, wirkt bei vielen bis heute nach.

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