60 Jahre BRD:Neue Heimat in der Fremde

Seyfi Sakin kam als billige Arbeitskraft, sehnte sich jahrelang nach der Türkei - und sagt nun: Ich bin zu 80 Prozent deutsch.

Roland Preuß

Der Blick aus dem Fenster bot etwas verführerisch Empörendes, eine Ungeheuerlichkeit, die sich Seyfi Sakin genauer ansehen musste. Auf dem Spielplatz da unten in Essen-West rauchten und knutschten ein paar Jugendliche. Für solche Sinnesfreuden wäre Sakin in seinem Heimatort bei Istanbul verprügelt worden.

60 Jahre BRD: Familienglück fern der Heimat: Seyfi Sakin Ende der 70er Jahre mit seiner damaligen Frau Fatma und den Töchtern Simnur (links) und Sama in ihrer Wohnung in Essen. Sakin lebt nun seit 38 Jahren in Deutschland - er hätte nicht so viele Gastarbeiter ins Land gelassen, sagt er.

Familienglück fern der Heimat: Seyfi Sakin Ende der 70er Jahre mit seiner damaligen Frau Fatma und den Töchtern Simnur (links) und Sama in ihrer Wohnung in Essen. Sakin lebt nun seit 38 Jahren in Deutschland - er hätte nicht so viele Gastarbeiter ins Land gelassen, sagt er.

(Foto: Foto: H. Christoph/Das Fotoarchiv)

Seyfi war 22 und gerade als "Gastarbeiter" aus der Türkei gekommen. Das war 1971. Der Türke ließ einen Tag Schamfrist verstreichen und ging dann auch zum Spielplatz. Die Clique nahm ihn schnell auf und Sakin durfte an den Ungeheuerlichkeiten teilnehmen: Die junge Ruth bescherte ihm eine Romanze.

"Deutschland war für mich ein Abenteuer und ein Traum", sagt Sakin. Der 60-Jährige wohnt heute in einer noblen Wohnung mit Blick auf die Ruhrtalsperre, er hat längst einen deutschen Pass und sogar ein Häuschen am türkischen Mittelmeer. Trotz allem sagt er: "Ich habe 20 Jahre lang bereut, nach Deutschland gekommen zu sein." Noch heute trägt er die Sehnsucht nach der Heimat in seinem Herzen.

So wie Seyfi Sakin kamen seit dem ersten Anwerbeabkommen mit Italien 1955 Millionen Gastarbeiter in die Bundesrepublik. Sie schraubten bei Ford am Fließband, schwitzten für Thyssen am Hochofen und legten Gleise für die Bundesbahn. Sie wurden zur Sonderschicht des Wirtschaftswunders, bauten das Land mit auf und blieben ihm doch vielfach fremd.

Sie haben Deutschland mitgeprägt: Dutzende Moscheen stehen mittlerweile zwischen Nordsee und Alpengipfeln, unzählige Pizzerien, in Großstädten bestimmen Döner-Läden, Asia-Märkte und Telefonshops das Bild ganzer Straßenzüge. Auch der Döner selbst ist ein Produkt dieser Zeit, die mitteleuropäische Variante wurde in Berlin erfunden.

Doch Zuwanderer-Kultur ist mittlerweile viel mehr: Die Kinder der Einwanderer drehen erfolgreich Filme so wie Fatih Akin und führen Parteien wie der Grüne Cem Özdemir. Doch dafür waren ihre Eltern nicht gekommen.

Die Gastarbeiter bildeten bereits die dritte Zuwanderungswelle nach dem Krieg. Etwa acht Millionen Vertriebene waren aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches bis zur Gründung der Bundesrepublik nach Westdeutschland geströmt. Ihnen folgten die Flüchtlinge aus der DDR, deren Zahl sich bis zum Mauerbau 1961 auf fast drei Millionen summierte.

Die Integrationsmaschine dieser Zeit hieß Wirtschaftswunder, die Betriebe nahmen viele neue Arbeitskräfte auf, als wären sie der Treibstoff einer Gelddruckmaschine. Die Flucht aus der DDR wurde schwieriger, mit dem Mauerbau endete die Zuwanderung aus dem Osten und die Unternehmen riefen immer lauter nach zusätzlichen Arbeitskräften.

Also schloss die Bundesregierung Abkommen mit Italien, Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) sowie Jugoslawien (1968). In Neapel, Athen und Istanbul eröffneten Arbeitsamtbüros, die Ausländer auf deutsche Arbeitsplätze vermittelten. Nur wer einen Job hatte, durfte kommen. Und sie kamen, etwa neun Millionen bis 1974.

Die Idee, die sich im Begriff Gastarbeiter ausdrückte, wirkte elegant: Während des Booms sollten die Ausländer aushelfen; wer seinen Job verlor, wurde dagegen zum unerwünschten Gast. Er sollte wieder zurück. Anfangs schien dieses Konzept sogar aufzugehen: In der Wirtschaftskrise 1966/67 kehrten fast die Hälfte der Gastarbeiter heim. So sollte es allerdings nie wieder ablaufen.

Die vermeintlichen Zuwanderer auf Zeit brachten meist keine Berufsausbildung mit. Das hatte auch Vorteile: Den Arbeitgebern galten sie als willig und billig. Und den deutschen Kollegen erschienen sie so weniger als Konkurrenz, oft ermöglichten sie ihnen sogar den Aufstieg auf bessere Positionen.

Sakin passt in dieses Muster. Er hatte in der Türkei gerade einmal fünf Jahre die Schule besucht und danach als Bäcker gearbeitet. Da schrieb ihm seine Schwester, die schon in Essen wohnte, sie habe ein "nettes Mädchen" für ihn in Deutschland gefunden und lud ihn ein. So lernte Seyfi - nach der anfänglichen Romanze mit Ruth - seine spätere Frau Fatma kennen. Eine Heirat würde ihm ganz neue Perspektiven im wohlhabenden Deutschland eröffnen, dachte er.

Einen Job musste er trotzdem nachweisen. Sakin fing als Hilfsarbeiter an, erst in einer Mülheimer Bäckerei, dann bei den Mannesmann Röhrenwerken. Die zahlten ihm 900 Mark netto im Monat, später, als er es zum Kranführer gebracht hatte, waren es 1200 Mark. Damit konnte sich die Familie mit ihren Töchtern eine Drei-Zimmer-Wohnung leisten. Ihr bunter Wandteppich (auf dem Foto rechts zu sehen) zeigte freilich nicht, wie bei vielen anderen an Politik und Islam interessierten Türken, eine Istanbuler Moschee und Staatsgründer Atatürk, sondern den indischen Taj Mahal und einen Pfau - ein Hinweis auf Seyfis weltliche Orientierung.

Es lohnte sich für Mannesmann und die vielen anderen Unternehmen, die Gastarbeiter einstellten, die ganze deutsche Wirtschaft erhielt einen Schub. Ihre Verbände drängten die Bundesregierung immer wieder dazu, mehr Menschen holen zu dürfen - und die handelte danach, bis es in der Wirtschaftskrise 1973 einen Anwerbestopp gab, der jedoch gleich wieder mit Ausnahmen durchlöchert wurde.

Die Interessengemeinschaft von Unternehmern und Gastarbeitern ging langsam zu Ende. Und mehr und mehr wurde sichtbar, dass die Idee vom Gastarbeiter nicht mehr aufging. Der Satz von Max Frisch - "Wir riefen Arbeitskräfte und es kommen Menschen" - zeigte sich in mehrfacher Hinsicht: Die Zuwanderer hatten es satt, auf Dauer ihr Leben in Wohnbaracken oder Betriebssiedlungen zu führen, viele holten ihre Familien nach und zogen in normale Wohnungen.

An den mitgebrachten Traditionen und Bräuchen wollte ein Großteil ganz bewusst festhalten, Korankurse und Kulturzentren sollten dabei helfen. Die Gastarbeiter brachten aber auch politische Konflikte aus ihrer Heimat mit, etwa den zwischen Kurden und Türken.

Die sozialliberale Regierung Helmut Schmidts setzte weiter auf eine Rückkehr der Gastarbeiter, was unter dem Strich allerdings nicht aufging. Zwar zogen Zehntausende tatsächlich heim, vor allem Griechen und Spanier packten ihre Koffer. Türken jedoch fanden zunehmend Gefallen am Leben in Deutschland, sie holten Frauen und Kinder nach oder nutzten die Ausnahmen im Gesetz für neue Arbeitskräfte.

Anfang der 80er Jahre stockte dann auch noch die Integrationsmaschine Arbeitsmarkt: Die Zeit der Massenarbeitslosigkeit begann, die Unternehmen ersetzten mehr und mehr ihre Arbeiter durch Maschinen, die Hilfsarbeiter zuerst. Das traf die meist angelernten Migranten am stärksten. Schlimmer noch: Ihre Jobs kamen nicht wieder, die Arbeitslosenquote unter Ausländern wurde langsam doppelt so hoch wie die der Einheimischen.

Seyfi Sakin warf im Jahr 1981 bei Mannesmann hin. Immer wieder hatte er Ärger mit einen Chefs gehabt wegen seiner "Scheiß-egal-Mentalität", wie er selber sagt. Er war nach Deutschland gekommen, um frei zu sein, doch in der Firma würde er, der Türke, immer der Untergebene bleiben, einer, dem man sagt, was er zu tun hat.

Sakin musste sein eigener Chef werden. Er kratzte Geld zusammen und kaufte sich ein Taxi. Die Fotos zeigt er noch heute mit Stolz: ein neuer Passat Kombi, er posiert auf der Motorhaube, ein durchtrainierter Mann in Jeans und Lederjacke. Die Rechnung ging auf: Das Geschäft lief so gut, dass Sakin zwei weitere Taxifahrer anstellte, er war zum Kleinunternehmer aufgestiegen, der nun sogar einem Deutschen vorstand.

Für seine kleine Tochter lief es nicht so glatt. Die Lehrer schickten sie auf die Sonderschule. "Sie konnten sie nicht bändigen", sagt Sakin. Mit Migrantenkindern hielten sich viele Direktoren nicht lange auf, wer Probleme machte oder durch gebrochenes Deutsch auffiel, landete mit Lernbehinderten in einer Sonderklasse.

An Warnungen vor den Folgen versäumter Integration hat es damals nicht gefehlt: 1976 sah ein Ministerialdirektor des Bundessozialministeriums eine "völlig unzureichende soziale Integration der Ausländer" voraus. Und 1979 schilderte eine Reportage im Magazin Geo, wie Gastarbeiterkinder in deutschen Schulen untergehen - aus Fahrlässigkeit der Eltern und aus Desinteresse der Bildungspolitiker. "Die Gastarbeiterkinder scheinen zu einem Leben als Hilfsarbeiter verurteilt. Wenn sie überhaupt noch Arbeit finden", so das hellsichtige Fazit. Hellsichtig deshalb, weil bis heute viele Gastarbeiterkinder ohne Berufsabschluss und Job geblieben sind.

Die Idee von eigenen Ausländer-Klassen, die Zuwanderer-Jugendlichen die Rückkehr ins Land ihrer Eltern erleichtern sollten, hielt sich bis in die Ära Helmut Kohl. Auch seine christlich-liberale Koalition betrieb keine umfassende Eingliederungspolitik, man setzte auf einen Mischmasch aus Rückkehrer-Prämien, Deutschkursen und Beratungsstellen.

Ein Gesetzentwurf von Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann sah sogar noch 1988 vor, dass ein Ausländer seine Aufenthaltserlaubnis verlieren soll, wenn er sich integriert, weil er dann nicht mehr als rückkehrwillig galt. Dem Gastarbeiterdenken auf deutscher Seite entsprach das Rückkehrverlangen bei den Zuwanderern. Die Sehnsucht nach der alten Heimat loderte weiter, schließlich waren sie ja gekommen, um mit dem Ersparten ein besseres Leben in Jugoslawien oder der Türkei aufzubauen. Warum also sollten sie den Aufwand betreiben, Deutsch zu lernen oder das Abitur zu schaffen, wenn sie auf dem Sprung zurück waren?

Sakin setzte 1988 zu diesem Sprung an. Seine Ehe zerbrach, die Töchter zogen zur Mutter, es war die Gelegenheit, sein Leben neu zu ordnen. Sakin kaufte sich ein kleines Haus in der Nähe von Marmaris am Mittelmeer, ein kleiner Stützpunkt für ein neues Leben. Er hatte sich nicht wirklich heimisch gefühlt in Deutschland. Er plante den Umzug in die Türkei. "Ich hatte aber nicht den Mut, zurückzugehen", sagt Sakin.

Das Thema erledigte sich schnell. Er lernte seine jetzige Frau Ursula kennen und zog zu ihr in die großzügige Wohnung mit Blick auf die Ruhr. Sakin hatte sich auf den Weg gemacht vom Gastarbeiter zum Deutsch-Türken. Auch die tödlichen Brandanschläge gegen Türken in Mölln und Solingen Anfang der 90er Jahre entfremdeten ihn nicht mehr von der neuen Heimat. 1996 wurde er Deutscher, behielt aber seinen türkischen Pass.

"Ich bin zu 80 Prozent deutsch", sagt Sakin heute und macht eine Rechnung auf: 38 von 60 Lebensjahren hat er in Deutschland gelebt, seit etwa 30 Jahren liest er die türkische Hürriyet und die Westdeutsche Allgemeine Zeitung.

Beim Gedanken, in der Türkei zu leben, bekommt er "Gänsehaut", erst recht in seinem Alter: "Wenn du dort einen Herzinfarkt bekommst, kratzt du unterwegs ab." Man glaubt ihm die 80 Prozent spätestens dann, wenn er über Ausländerpolitik redet. Er hätte nicht so viele Gastarbeiter ins Land gelassen, sagt Sakin. Fünf Jahre sollten die Leute bleiben dürfen und dann wieder gehen "ohne Wenn und Aber". Sakin könnte sich mit Wolfgang Schäuble schnell einigen. Der Bundesinnenminister plant künftig etwas Ähnliches, eine Art neuen Gastarbeiter, der wirklich wieder heimkehren soll.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: