60 Jahre BRD:Die bösen und die guten Deutschen

Die DDR stilisierte sich zum besseren deutschen Staat, der im Gegensatz zur Bundesrepublik die Lehren aus der jüngsten Geschichte gezogen habe.

Ralf Husemann

Die "Holzauktionen" sollten jeweils innerhalb weniger Tage beendet sein. Ihre dramatischen Folgen prägten Jahrzehnte.

dpa

An der ehemaligen "Zonengrenze": Das Freilandmuseum Behrungen bei Meiningen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze.

(Foto: Foto: dpa)

Überall an der Demarkationslinie zwischen der Bundesrepublik und der DDR, die damals im Westen nur "die Zone" hieß, begannen Ende Mai 1952 Arbeiter damit, eine zehn Meter breite Schneise in den Wald zu schlagen. Das wirkte zuerst noch nicht bitterernst.

In den vom Journalisten Roman Grafe für sein Buch "Die Grenze durch Deutschland" ausgewerteten Berichten der Volkspolizei klingt das Ganze fast anekdotisch: Da die Partei "keine Leute mitschickte, die die Arbeit anwiesen und beaufsichtigten, standen am Anfang über 100 Arbeiter beschäftigungslos im Regen. Auch die Verpflegung klappte nicht. Das führte dazu, dass in Lichtenhain 30 und in Lichtentanne 16 Arbeiter sich in die Westzone begaben und am Abend teilweise betrunken zurückkamen." Ähnliches wurde aus anderen Abschnitten der 1378 Kilometer langen Grenze zwischen West und Ost berichtet.

Kontrollstreifen, Schutzstreifen und 5-km-Sperrzone

Doch das war erst der Anfang. Hinter dem zehn Meter breiten ausgeholzten und mit Stacheldraht, später mit einem Metallzaun abgesicherten "Kontrollstreifen" schloss sich bald ein 500 Meter breiter "Schutzstreifen" und schließlich eine "5-km-Sperrzone" an, die man nur mit besonderer Genehmigung betreten durfte.

Aus diesem Bereich wurden "unzuverlässige" DDR-Bürger zwangsweise umgesiedelt. Dies geschah in zwei Etappen (1952 und 1961) unter den mal verräterischen, mal beschönigenden Namen "Aktion Ungeziefer" und "Aktion Kornblume". Etwa 3000 "freiwillige Helfer der Grenztruppen" wachten unablässig darüber, dass sich kein Verdächtiger im Grenzbereich aufhielt.

An dieser Grenze wurden Menschen erschossen, von Minen und Selbstschussautomaten zerfetzt, der Versuch der "Republikflucht" wurde mit Gefängnis geahndet.

Die Berliner Staatsanwaltschaft spricht von 270 Todesfällen an der innerdeutschen Grenze einschließlich Berlin, die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter kommt sogar auf 872 Todesopfer, wobei allerdings auch sehr viele ungeklärte Todesfälle und unter anderem auch 27 getötete DDR-Grenzer hinzugerechnet werden, die "Arbeitsgemeinschaft 13. August" geht gar von mehr als 1000 Opfern aus. Doch unabhängig von den exakten Zahlen ist wesentlich, dass das brutale "Grenzregime" den DDR-Bürgern das Gefühl gab, für immer eingesperrt zu sein.

Die Grenze als "Antifaschistischer Schutzwall"

Die DDR stilisierte jedoch die Grenze und insbesondere den "Antifaschistischen Schutzwall" in Berlin zur Nahtstelle zwischen dem guten und dem bösen Deutschland. Die DDR-Bürger waren zwar, wie sie im Westfernsehen feststellen mussten, die armen Vettern, sollten sich aber als "die besseren Deutschen" fühlen.

Der Politologe Herfried Münkler erklärt das mit dem Gründungsmythos der DDR, der auf dem antifaschistischen Widerstand beruhte. Während die Bundesrepublik mit Währungsreform und Wirtschaftswunder "auf eine im Wesentlichen ökonomische Gründungserzählung" setzte und sich als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reichs sah, habe die DDR eine Trennlinie zum NS-Staat gezogen. Außerdem sah sich die DDR als eine "Demokratie höheren Typs", wie das SED-Parteiorgan Neues Deutschland 1950 feststellte.

Begründet wurde dies damit, dass im sozialistischen Staat die im Kapitalismus übliche Ausbeutung des Menschen durch den Menschen überwunden sei. Dieses Bild vom angeblich besseren Deutschland, das seine Lehren aus der Geschichte gezogen habe, spielte ungeachtet aller tristen DDR-Realität bei linken Intellektuellen und nicht zuletzt auch bei zahlreichen Künstlern von Anbeginn bis zum Ende der DDR eine wichtige Rolle.

Nicht wenige ins Exil getriebene Schriftsteller, wie Bertolt Brecht, Anna Seghers, Johannes R. Becher, Arnold Zweig, Stefan Heym und Stephan Hermlin, zogen den sozialistischen Staat der kapitalistischen Bundesrepublik vor. Dieses positive Image der DDR spukte auch in vielen Köpfen der 68er Bewegung, die sich nicht zuletzt an der Tabuisierung des Dritten Reichs und ihrer personellen Kontinuitäten in der Bundesrepublik entzündet hatte.

Eine "Demokratie höheren Typs"

Und selbst als sich bereits das Ende der DDR im Herbst 1989 abzeichnete, plädierten Intellektuelle in ihrem Aufruf "Für unser Land" für eine souveräne DDR: "Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu den Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir auch ausgegangen sind." Dieser Aufruf wurde von 200000 Menschen unterschrieben, blieb jedoch chancenlos, da die mit Abstand meisten DDR-Bürger bald auf "Deutschland - einig Vaterland" setzten.

60 Jahre BRD: SED- und Staatsratschef Walter Ulbricht im September 1961.

SED- und Staatsratschef Walter Ulbricht im September 1961.

(Foto: Foto: dpa)

Bei all der Gleichheit blieb die Freiheit auf der Strecke

Das von den sozialistischen Agitatoren in den Vordergrund gestellte Ziel der "Gleichheit" der Menschen - ohnehin durch zahlreiche Privilegien der Partei- oberen nicht annähernd verwirklicht - ging vor allem zu Lasten eines anderen Ziels: der Freiheit.

Denn für den Sieg des Sozialismus und vor allem für die angepeilte Verwirklichung des Kommunismus mussten die Menschen erst einmal, milde gesagt, gewonnen werden. Sie waren, so die Propaganda, durch noch vorhandene Reste ihres "bürgerlichen Denkens" und durch die Beeinflussung der westlichen Medien noch keine sozialistischen Persönlichkeiten geworden.

Die erheblichen Widerstände gegen das Regime, die im Aufstand des 17.Juni 1953 kulminierten, sollten durch die "Diktatur des Proletariats" überwunden werden. Dass die "Demokratie höheren Typs" eine Diktatur war, war unübersehbar. Es gab keine freien Wahlen, die Presse war zensiert, die Justiz (zumindest in politischen Verfahren) weisungsgebunden.

Und nicht zuletzt hatte das Ministerium für Staatssicherheit mit seinen 91000 hauptamtlichen und etwa 140000 inoffiziellen Mitarbeitern, den IMs, ein fast lückenloses Netz der Überwachung über das Land gelegt. Doch das "Proletariat", das angeblich die Diktatur ausübte, bestand im Wesentlichen aus den 15 bis 25 Mitgliedern des "Politbüros" der SED, die, nach sowjetischem Vorbild, alle wichtigen Entscheidungen im sprichwörtlichen stillen Kämmerlein trafen.

Und wie sah der offiziell verkündete Anti-Faschismus wirklich aus? Ende des Zweiten Weltkriegs gab es acht Millionen eingeschriebene Nazis in Deutschland, mit den entsprechenden Anteilen in der DDR-Bevölkerung, die etwa ein Viertel der westdeutschen ausmachte. Unstreitig ist, dass die Sowjets, und in ihrem Gefolge die DDR-Justiz, rigoroser mit NS-Tätern umgingen als der Westen und die bundesdeutsche Justiz. Einige Zahlen: Bis April 1948 wurden in Ostdeutschland

520000 ehemalige NSDAP-Mitglieder aus öffentlichen Ämtern entlassen, bis zu 45 000 wurden allein von den Sowjets verurteilt, die Zahl der Todesurteile ist unbekannt. Der britische Historiker Tony Judt schreibt, in den Westzonen seien nur etwa 5000 Menschen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden, gut 800 von ihnen zum Tode, 486 wurden hingerichtet.

Auf die Ex-Nazis können beide Seiten nicht verzichten

Einig waren sich Ost und West aber, dass man so ganz auf die Ex-Nazis nicht verzichten könne. So waren etwa in Bayern 94 Prozent der Richter und Staatsanwälte oder etwa auch jeder Dritte im bundesdeutschen Außenministerium in der Partei gewesen. Aber auch der ostdeutsche Staat ließ die braunen Parteigenossen teilweise ungeschoren.

50 Prozent der Schuldirektoren der DDR waren Anfang der 50er Jahre ehemalige Nazis und zehn Jahre später noch zehn Prozent der Volkskammer-Abgeordneten. Das wurde freilich nicht so bekannt wie das Faktum, dass Leute wie der Rassegesetz-Kommentator Hans Globke wichtigster Mann hinter Adenauer werden konnte oder der Pg. Kurt Georg Kiesinger sogar Kanzler.

Faschismus ist eine perfide Ausprägung des Kapitalismus

Nach der in der DDR üblichen Geschichtsschreibung war der Nationalsozialismus, der hier, um den Begriff Sozialismus nicht zu diskreditieren, ausschließlich Faschismus genannt wurde, lediglich eine besonders perfide Ausprägung des Kapitalismus.

Walter Ulbricht, SED- und Staatsratschef bis 1971, definierte ihn 1968 so: Er sei "das Werk der aggressivsten, expansionistischsten Kräfte des Monopolkapitals, das mit den Mitteln der Militarisierung, der staatlich formierten Herrschaft und der Manipulierung der Menschen ein unmenschliches System geschaffen" habe.

Da aber durch den gesellschaftlichen Umsturz in der DDR der Kapitalismus überwunden worden sei, so die Logik, könnten hier die übriggebliebenen Nazis auch kein Unheil mehr anrichten. Für sie wurde sogar eine eigene Partei, die Nationaldemokratische Partei (NDPD), geschaffen, die freilich, wie auch die anderen "Blockparteien", die Ost-CDU, die angeblich "liberale" LDPD und die Demokratische Bauernpartei, die Politik der SED unterstützen musste.

Judt erinnert daran, wie in der DDR mühelos Einzelpersonen wie Institutionen "von Nationalsozialismus bzw. Faschismus auf Kommunismus umschalteten". So habe die Staatssicherheit ("Stasi") "nicht nur die Funktion und Praxis der Gestapo, sondern auch viele ehemalige Gestapoleute und Informanten" übernommen.

Judt: "Politische Opfer des neuen Regimes, oft pauschal als 'Naziverbrecher' bezeichnet, wurden von Ex-Nazipolizisten verhaftet, von Ex-Nazirichtern verurteilt und in Zuchthäusern und Konzentrationslagern, die der neue Staat en bloc übernommen hatte, von ehemaligen KZ-Wärtern bewacht."

"Innere Fehlentwicklungen in der DDR"

Für Egon Krenz - so in seinen "Gefängnisnotizen" - ist die Bezeichnung der DDR als "zweiter deutscher Diktatur" infam. "Gab es", so stellt er die rhetorische Frage, "Völker- und Massenmord in der und durch die DDR?" Krenz, der wegen Totschlags und Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt wurde (von denen er vier Jahre absaß), räumt nur "innere Fehlentwicklungen in der DDR" oder ein nicht immer vorhandenes "Vertrauensverhältnis" zwischen den Bürgern und dem Staat ein.

Mit der Grenze tut sich der inzwischen 72-Jährige immer noch schwer. Einerseits behauptet er, die "Schusswaffengebrauchsbestimmungen" hätten sich "in keiner Weise" von denen in der Bundesrepublik unterschieden. Zugleich spricht er aber von der "Niederlage meines Lebens, dass die DDR Tote an der Grenze zweier Gesellschaftssysteme und zweier Militärblöcke nicht verhindern konnte".

In diesem Eingeständnis hat Krenz die angebliche Unschuld der DDR versteckt. Denn so sehr der "Arbeiter- und Bauernstaat" immer auf seine Souveränität pochte, in einem Punkt war die DDR plötzlich alles andere als souverän. Die DDR-Westgrenze "war faktisch zugleich auch die Außengrenze der UdSSR", schreibt Krenz heute. Für ein solches Statement hätte sich ein DDR-Bürger eine Menge Schwierigkeiten eingehandelt.

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