60 Jahre BRD:Der chaotische Turbo-Kapitalismus

Die Welt leidet unter einer Liberalität, die nicht mehr viel mit dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft zu tun hat.

Volker Wörl

Kommt man als Sohn eines Philosophie-Professors und Literatur-Nobelpreisträgers zur Welt, dann vermittelt wohl schon das Elternhaus hohe Allgemeinbildung und ebnet den Weg für eine herausgehobene Karriere.

Die Rede ist von dem Nationalökonomen Walter Eucken. Er trat aus dem Schatten des Vaters heraus, war Mitbegründer und prägende Figur der "Freiburger Schule", in der eine Handvoll Wissenschaftler sich schon in den späten dreißiger Jahren, also auf dem Höhepunkt der Nazi-Herrschaft, Gedanken über eine gerechte Wirtschaftsordnung machten. Geboren wurde die Idee des "Ordoliberalismus", der jetzt in der Version des Neoliberalismus für heftige Debatten sorgt.

Obwohl Eucken schon 1950 starb, hat er das Konzept und die innere Ordnung der allmählich heranreifenden sozialen Marktwirtschaft maßgeblich geprägt. Ludwig Erhard war - schon von Statur und Auftreten - ihre politische Galionsfigur, sein späterer Staatssekretär Alfred Müller-Armack konstruierte das Konzept und prägte auch den Namen.

Man muss und sollte den erfolgreichen "Dicken" und seine Mitstreiter nicht idealisieren. Man mag auch darüber rätseln, wie sie sich verhalten hätten in einer globalisierten Welt. Ob sie nicht zweifeln und fragen würden, wie sie die Geister wieder loswerden, die sie beschworen und die sich verselbständigt haben. Wie sie schließlich jetzt versuchen würden, die ungezügelten Kräfte zu bändigen.

Ein Verdienst bleibt ihnen: Im Verlauf des beeindruckenden wirtschaftlichen Aufstiegs Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg gab es weniger Rücksichtslosigkeit als heute. Soziale Partnerschaft, Mitbestimmung, konzertierte Aktionen waren Programme. Zwar wie alle Programme mit Fehlern behaftet, aber der Geist des Miteinander-Gehens und des Aufeinander-Angewiesenseins war ungleich stärker ausgeprägt als in der heutigen Zeit.

Der Aufstieg war das Ergebnis einer gebändigten Wettbewerbswirtschaft, in der nahezu Vollbeschäftigung erreicht wurde. 1970 wurden in Westdeutschland nur 150.000 Arbeitslose registriert. Die zerstörerischen menschlichen und sozialen, die verheerenden politischen und fiskalischen Folgen hoher Arbeitslosigkeit gab es jahrelang nicht. Demoskopische Befragungen großen Stils existierten damals kaum. Hätte es sie gegeben, dann hätten die Resultate vermutlich anders ausgesehen als heute, da nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung 73 Prozent, also drei Viertel der Bevölkerung, die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland als ungerecht empfinden. Nur noch 31 Prozent haben, so das Ergebnis einer anderen Fragestellung, eine gute Meinung von dem Gesellschaftssystem, in dem sie leben.

Das liegt nicht zuletzt an der Art und Weise, wie der Neoliberalismus in den letzten Jahren praktiziert wurde. Ursprünglich wollte er sich ja eigentlich gerade absetzen von einem schrankenlosen Laissez-faire eines ideologischen Liberalismus, der dem Staat die sprichwörtliche Nachtwächterfunktion verpasst hatte. In einem von allen Fesseln befreiten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sollte der Staat nicht einmal regulierend eingreifen, geschweige denn selber aktiv sein.

Dagegen wollte der Ordoliberalismus einen durch Recht und Gesetz geregelten Leistungswettbewerb, der aber - und darauf kommt es an - möglichst gerecht (bei aller Problematik dieser Forderung) organisiert ist und soziale Sicherheit gewährleistet.

Der eklatante Unterschied wird deutlich, wenn man an ein Wort des österreichischen Wirtschafts-Nobelpreisträgers Friedrich August von Hayek, eines Liberalen der alten Schule, erinnert. Auf die Frage: Was halten Sie von Umverteilung als Element sozialer Gerechtigkeit, sagte er: "Nicht das Geringste: Wer ist denn gerecht oder ungerecht. Die Natur? Oder Gott? Jedenfalls nicht Menschen, da die Verteilung aus dem Marktprozess hervorgeht." Hayeks Theorien fanden ihren praktischen Niederschlag in der Wirtschaftspolitik Ronald Reagans und im britischen Thatcherismus.

Wie sehr der von Hayek beschworene Marktprozess versagt hat, ist jetzt offenbar geworden. Das weltweite Finanzsystem ist gescheitert. Es wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer komplizierter, unregulierter und chaotischer. In den USA wurde der Begriff "Turbo-Kapitalismus" geboren. Seine typischen Merkmale sind der Glaube an ständiges quantitatives Wachstum, immer höhere Leistungsfähigkeit, zunehmende Ungleichheit und ein ungeregelter Strukturwandel, der manche Innovation hervorbringt, aber auch viel zerstört.

In der Gesellschaft sind tiefe Gräben aufgebrochen. Viele Menschen machen sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz, um eine sichere Zukunft. Kein Mensch weiß, wie lange die Krise dauern wird, und wann sie erst ihren Höhepunkt erreichen wird. Frust und berechtigte Wut richten sich gegen die Urheber von waghalsigen, widerwärtigen, gierigen, manchmal kriminellen Geschäften, die ihre Hände in Unschuld waschen und maßlos Geld kassieren.

Was sich in den letzten Jahren auf den internationalen Finanzmärkten ereignete, kennzeichnet ein System, das den vernünftigen, kalkulierten, auf Sicherheit bedachten Umgang mit Geld und mit natürlichen Ressourcen außer Kraft gesetzt hat. Deutlicher konnte es seine Lebensfeindlichkeit nicht zeigen.

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