30 Jahre Brandt-Rücktritt:Der Sturz des Visionärs

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Ein Spion, Frauengeschichten, Freunde, die zu Gegnern wurden - bis heute ist unklar, was Regierungschef Willy Brandt in den Tagen der Spionage-Affäre um Günther Guillaume wirklich zur Aufgabe bewegte.

Von Hans Werner Kilz

Bevor Willy Brandt am Morgen des 6. Mai 1974 sein Haus auf dem Bonner Venusberg verlässt, geht er über den langen Flur ins Schlafzimmer seiner Frau Rut, um sich zu verabschieden. Das macht der Kanzler selten, zumal die Brandts seit langem die Nächte in unterschiedlichen Räumen der Dienstvilla verbringen.

Rut Brandt ist erstaunt. Sie schreibt später in ihrem Erinnerungsbuch Freundesland: "Ich lag noch im Bett. Er stellte sich ans Fußende und sagte: ,Ich werde heute zurücktreten.'" Das Ehepaar Brandt redet wenig miteinander in jenen Maitagen 1974, aber diese Mitteilung kommt für Rut Brandt nicht überraschend. Sie sagt: "Das finde ich richtig. Einer muss die Verantwortung auf sich nehmen."

"Ich bin ein Stasi-Offizier - respektieren Sie das!"

Zwölf Tage zuvor, am 24. April, war Brandts persönlicher Referent Günter Guillaume in seiner Wohnung in der Godesberger Ubierstraße 107 von Beamten der Sicherungsgruppe wegen Spionageverdachts für die DDR verhaftet worden.

Das Geständnis lieferte der Festgenommene, noch bevor die Kriminalkommissare ihren Durchsuchungsbefehl so richtig vorzeigen konnten. "Ich bin Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit - respektieren Sie das!", will Guillaume damals nach eigener Aussage gesagt haben.

Die deutsche Öffentlichkeit war geschockt: ein DDR-Spion im Machtzentrum der Bonner Regierung, in unmittelbarer Nähe des Mannes, der mit seiner Politik die Phase der Versöhnung mit den Staaten Osteuropas einleitete - das hatte den Machthabern in Ostberlin niemand zugetraut, weder nachrichtendienstlich noch politisch.

Es gibt mehrere Wahrheiten

Kein Ereignis in der Geschichte der Bundesrepublik ist so unterschiedlich interpretiert worden wie der Rücktritt Willy Brandts. Was waren die wirklichen Gründe: der Spion im Kanzleramt? Die Intrigen politischer Weggefährten, die leichtfertig mit "Frauengeschichten" des Kanzlers hantierten?

War es der SPD-Zuchtmeister Herbert Wehner, der Brandts laschen Führungsstil beklagte und Helmut Schmidt zum Kanzler machen wollte? Oder war Willy Brandt, der 1972 den bislang größten Wahlsieg für die SPD errungen hatte ( 45,8 Prozent der Zweitstimmen) vom Politikalltag zermürbt, von Krankheiten geschwächt, depressiv und einfach nur amtsmüde?

Hermann Schreiber, einst Spiegel-Reporter und als langjähriger journalistischer Begleiter Brandts ein gut informierter und einfühlsamer Beobachter, zitiert in seiner "Kanzlersturz"-Analyse den Kanzler selber: "Es gibt mehrere Wahrheiten, nicht nur die eine, alles andere ausschließende Wahrheit".

Alle Zeitzeugen haben Legenden genährt

Das ist zwar mehr das Fazit seiner Erfahrungen als Politiker, gilt aber auch für den eigenen Fall. "Zweifelsfrei", bilanziert Schreiber, steht nur fest: Brandt ist als Kanzler zurückgetreten, und Guillaume war ein Spion.

"Die historische Wahrheit ist bis heute nicht ermittelt, und die Chancen stehen schlecht, dass dies noch geschehen wird", schreibt der Stuttgarter Politikwissenschaftler Martin Rupps in seinem Buch "Troika wider Willen", in dem er analysiert, wie Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt die Republik regierten.

Rupps hat viele Akten und Protokolle gelesen, mit Zeitzeugen geredet, die Fülle der Fachliteratur zu Rate gezogen. Aber was er akribisch zusammenträgt, fügt sich nicht zu einer widerspruchsfreien These. Fast alle Zeitzeugen, die sich mit Brandts Zeit als Kanzler beschäftigten, haben Legenden genährt, auch Brandt selber.

"Er badet gern lau, so in einem Schaumbad"

Der grandiose Wahlsieg am 19. November 1972 ist Höhepunkt und zugleich Scheitelpunkt in Brandts Karriere. Aus dem strahlenden Kanzler, der charismatischen Leitfigur der Intellektuellen, dem ostpolitischen Visionär und Friedensnobelpreisträger, wird binnen weniger Monate der zaudernde, zweifelnde und zerrissene Regierungschef.

Ölpreiskrise und Nullwachstum machen den Sozialdemokraten erstmals bewusst, dass der materielle Wohlstand seine Grenzen hat. Auch in der Innenpolitik läuft vieles schief. Die Fluglotsen streiken monatelang, auch der mächtige Gewerkschaftsboss Heinz Kluncker, ein Genosse, erpresst den Kanzler mit einer zweistelligen Lohnforderung. Brandt knickt ein.

Herbert Wehner, der SPD-Fraktionschef, nutzt im Herbst 1973 auf einer Moskau-Reise das Gespräch mit Journalisten, um die "Nummer eins" zu demontieren: Der Herr sei "entrückt" er bade gern lau, "so in einem Schaumbad".

Wehner, ein Verräter?

Er sei ein "schlaffer Kanzler", der zwar im Ausland gut ankomme, aber nicht merke, "wie unten alles zusammenbricht". Brandt ist tief verletzt ("Jetzt ist es genug. Er oder ich"), doch die Mehrheit im Parteivorstand billigt Wehners inhaltliche Kritik.

Der Kanzler verdächtigt seinen langjährigen SPD-Weggefährten der Illoyalität, zumal Egon Bahr, dem Brandt vertraut, mit Informationen aus Moskau aufwartet, die Wehner stark belasten. Danach habe der SPD-Fraktionschef zu einem sowjetischen Konfidenten gesagt, Brandt sei als Politiker am Ende, er habe in der Partei keinerlei Rückhalt mehr, trinke viel und sei ein rechter Schürzenjäger.

Wehner, so die sowjetische Quelle, sei ein Verräter. Brandts spätere Ehefrau Brigitte Seebacher versucht das nach Brandts Tod mit dem Hinweis zu bekräftigen, Willy Brandt sei nicht überrascht gewesen, dass Wehner "bis zu seinem Ausscheiden aus der Politik auch die Sache ,der anderen Seite' betrieben" habe - ein infamer Vorwurf, für den es keine seriösen Belege gibt.

Das Ultimatum von Bad Münstereifel

Stimmen die Versionen von Schreiber und Rupps, ist Wehner trotz aller Kritik für den Verbleib Brandts im Kanzleramt. Noch einen Monat vor der Enttarnung Guillaumes lobt Wehner vor Bremer Genossen den Kanzler als "Träger der Hoffnungen nach einem sicheren Frieden, nach Verständigung von West-Ost, Nord-Süd weit über Europa hinaus" und sagt: "Wer ihn, sei es in Fragen der Ostpolitik, sei es in anderen Fragen, so das Leben schwer macht und die Arbeit, der muss wissen, es gibt keinen Ersatz für ihn, keinen Besseren."

Daran ändert zunächst auch die Enttarnung Guillaumes nichts. Erst als Wehner von seinem Vertrauten Günther Nollau, dem Chef des Verfassungsschutzes, erfährt, dass Bonner Sicherheitsbeamten und Guillaume selber dem Kanzler auf Reisen Frauen zugeführt haben, schwenkt er offenbar um.

Brandt und Wehner treffen sich in Bad Münstereifel, wo Wehner ein Ultimatum stellt: Brandt, habe 24 Stunden Zeit, über einen Rücktritt nachzudenken. Wenn er sich stark genug fühle, alles durchzustehen, werde er, Wehner, an seiner Seite stehen.

"Das stehe ich nicht durch"

Doch Willy Brandt ist unfähig, die Krise zu managen. "Der Ablauf der Ereignisse", schreibt Hermann Schreiber, gewinnt "eine Eigenbeschleunigung" mit "Zutaten für einen richtigen Krimi": Sex and Crime im Milieu der Mächtigen.

Und Brandt muss erleben, wie viele um ihn herum Aktivitäten entwickeln, die bei ihm den Verdacht nähren, die Verknüpfung von Intimsphäre und Spionageaffäre sei inszeniert. Brandt am 1. Mai nach einer Kundgebung: "Das stehe ich nicht durch."

Er ist nun noch misstrauischer und verschlossener. Am 5. Mai, spät abends, redet er mit seinem Sohn Lars, der bei den Eltern wohnt. Er zeigt dem 22-Jährigen den Rücktrittsbrief, der auf den 6.Mai vordatiert ist und den er tags darauf nicht mehr ändert: "Ich übernehme die politische Verantwortung für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre Guillaume und erkläre meinen Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers."

Lars reagiert, wie es sich sein Vater wohl wünscht. Er sagt: "Bitte tu's nicht." Am anderen Morgen erfährt es Rut, erst am Abend schickt Brandt seinen Kanzleramtschef Horst Grabert mit dem Rücktrittsbrief und einigen persönlichen Zeilen zum Flughafen mit dem Auftrag, beide Schreiben Bundespräsident Gustav Heinemann zu geben, der gerade auf Abschiedstour in Hamburg ist.

Mit Grabert reist der designierte Bundeskanzler Helmut Schmidt, der nach der Landung seinem Referenten sagt:"Hören Sie um Mitternacht mal Nachrichten." Um 0.30 Uhr, am 7.Mai, bestätigt das Bundespresseamt den Rücktritt.

Literatur: HERMANN SCHREIBER: Kanzlersturz. Warum Willy Brandt zurücktrat. Econ Verlag, München. MARTIN RUPPS: Troika wider Willen: Wie Brandt, Wehner und Schmidt die Republik regierten. Propyläen Verlag München.

© SZ vom 7.5.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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