50 Jahre Amnesty International:Vom Protestbrief zur Ersatzreligion

Global Player für die Menschenrechte oder "Gemischtwarenladen für Moral"? Amnesty International hat sich in den 50 Jahren seit Gründung immer neue Themen gesucht. Die Organisation setzt sich nicht mehr nur für politische Gefangene ein, sondern kämpft auch gegen Armut und für Arbeit. Manche finden das beliebig.

Cathrin Kahlweit

Iain Levine ist das, was man einen Protest-Profi nennen könnte: Er hat für das Kinderhilfswerk Unicef gearbeitet, danach für Amnesty International (AI), derzeit ist er einer der wichtigsten Köpfe von Human Rights Watch in New York. Jede dieser drei Organisationen - wie viele andere auch - kämpft für Menschenrechte: Amnesty etwa engagierte sich einst vorwiegend für politische Gefangene, heute aber, wie Human Rights Watch, für alle Unterdrückten und Entrechteten.

50-jaehriges Bestehen von Amnesty International

50 Jahre Amnesty International: Mitglieder der Menschenrechtsorganisation protestieren im Juli 2006 in der Nähe der Berliner US-Botschaft gegen das Gefangenenlager Guantanamo.

(Foto: dapd)

Ziemlich viel Konkurrenz also in einem unübersichtlichen Feld, könnte man meinen, aber Levine preist enthusiastisch seinen früheren Arbeitgeber AI, der in diesen Wochen sein 50-jähriges Bestehen feiert: "Keine Gruppe kann weltweit so viele Menschen mobilisieren wie Amnesty, keine so viele Menschen zusammenbringen, keine so viel Druck ausüben in Menschenrechtsfragen."

Den bisweilen zu hörenden Vorwurf, die Gefangenenhilfsorganisation habe sich zu einem "Gemischtwarenladen für Moral" entwickelt, kann Levine nicht verstehen: Die Menschenrechtslage sei dramatisch, da könne man nicht nur nach individuellen Schicksalen fragen, sondern müsse sich auch den Strukturen widmen: "Ich kann fordern, dass jemand freikommt. Aber ich muss auch fordern, dass die Motive offengelegt werden, warum er verhaftet wurde."

Wenn an diesem Wochenende in London, in Berlin und anderswo zur Feier des Tages "Feste für die Menschenrechte" steigen, wenn Politiker die Arbeit von AI würdigen und die Einhaltung der Menschenrechte fordern, dann ist dies das Ergebnis einer großartigen Erfolgsgeschichte. Gleichzeitig aber ist die Zukunft offen, denn Ziele und Motivlage der Organisation sind heute weit schwerer zu fassen als noch in den Anfangszeiten während des Kalten Krieges.

Damals, 1961, las der Brite Peter Beneson von zwei portugiesischen Studenten, die sich mit den Worten "auf die Freiheit" zuprosteten, was unter Diktator Salazar verboten war; die beiden wurden verhaftet. Beneson wurde zum Erfinder des AI-Markenzeichens, das später urgent action heißen sollte: Er animierte Freunde und Verwandte, Protestbriefe nach Lissabon zu schreiben, die beiden jungen Männer kamen frei. Aus der guten Idee wurde erst ein Konzept, dann eine professionell organisierte Gruppe, die sich von politischem Einfluss und jedweder Ideologie freizuhalten suchte, und schnell bildeten sich Sektionen in aller Welt. Deutschland war gleich das zweite Land nach Großbritannien.

Global Player mit unzerstörbarem positiven Image

Gerd Ruge, Journalist bei der ARD, war Gründungsmitglied, damals begann seine Gruppe mit einem "eingeschränkten Programm, wir kümmerten uns um drei Häftlinge." Er weiß - auch aus seiner Zeit als Korrespondent in der Sowjetunion - wie dankbar politische Gefangene waren, dass ihr Schicksal überhaupt wahrgenommen wurde, und er glaubt, dass "Staaten vorsichtiger wurden bei der Verhaftung von Gegnern, sie ließen etwas mehr Meinungsfreiheit zu".

Heute ist Amnesty eine internationale Macht, ein Global Player mit fast unzerstörbar positivem Image; die Menschenrechtsarbeit sei für viele Unterstützer "fast schon eine Ersatzreligion", wie es die deutsche Generalsekretärin, Monika Lüke, in einer Mischung aus Selbstironie und Verwunderung formuliert. Weltweit 2,8 Millionen Helfer gibt es in 150 Staaten, 100000 von ihnen in Deutschland. Bei manchen Briefaktionen für gewaltfreie politische Gefangene beteiligen sich schon mal 80000 Menschen in aller Welt. Amnesty lebt von Spenden und nimmt kein Geld von Regierungen.

Aber bei allem Stolz auf das Erreichte, auf die vielen tatsächlich freigelassenen politischen Gefangenen, mehrt sich die Kritik an der Ausrichtung von Amnesty, und es mehren sich die Fragen, ob die Organisation tatsächlich so ideologiefrei, so neutral arbeitet, wie sie es müsste, um den guten Ruf zu bewahren. Denn die Zentrale in London mit etwa 500 Mitarbeitern dreht mittlerweile ein ziemlich großes Rad, die Briefaktionen für Häftlinge sind nur noch ein kleiner Teil der großen Arbeit.

"Der Einsatz für das Heil wird für AI zum Unheil"

Mit der Generalsekretärin Irene Khan aus Bangladesch, die Amnesty zwischen 2001 bis 2009 führte, wurde der Fokus immer breiter: Diskriminierung, Gerechtigkeit, Folter und Todesstrafe, Schutz von Flüchtlingen, Frauenrechte. Die konservative Schweizer Weltwoche kritisiert, der "großflächige Einsatz für das Heil in der Welt werde zum Unheil" für AI: Die Organisation wolle zu viel und verliere dadurch an Glaubwürdigkeit.

Khan musste sich mehrmals gegen Vorwürfe wehren, sie schlage zu sehr auf die USA ein, Guantanamo sei zwar unerträglich, aber anderswo werde noch viel unerträglicher, weit systematischer gefoltert. Die Organisation musste erklären, warum sie mit einem Ex-Islamisten und Ex-Guantanamo-Häftling wie Moazzem Begg zusammenarbeitete, der sich nie völlig von den Taliban distanziert hat. Interne Kritiker wie die Aktivistin Gita Sahgal wurden deswegen kurzerhand freigestellt. Und AI bekam Prügel, weil es israelfeindliche Papiere mit nicht belastbaren Zahlen über die Unterdrückung der Palästinenser erstellt habe.

Der Unterstützer der ersten Stunde, Gerd Ruge, findet es gleichwohl richtig, dass die Gruppe ihren Fokus so stark erweitert hat und heute auch für das kämpft, was in der modernen Sozialwissenschaft "soziale Menschenrechte" genannt wird - gegen Armut und Vertreibung, für Gleichberechtigung und Arbeit. Ihm erscheint das "selbstverständlich. Als wir angefangen haben, gab es das Verständnis von Menschenrechten ja gar nicht, das es heute gibt."

Im Jubiläumsheft, das sich AI Deutschland gewidmet hat, wird die erfolgreiche Arbeit aus 50 Jahren, das alte und das neue Konzept, jedenfalls mit einem schönen Satz zusammengebunden: "Es sind gewöhnliche Menschen wie du und ich, die Regierungen daran erinnern, dass sie nicht tun können, was sie wollen."

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