Italien:Triumph der Unerfahrenen

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Müll, Schulden, Schlaglöcher: Mit Virginia Raggi gewinnt eine Protestbewegung die Bürgermeisterwahl in Rom, die verspricht, alle Probleme zu lösen. Die Leute glauben ihr, weil sie ihr glauben wollen.

Von Oliver Meiler, Rom

Da stand sie dann in einer weißen Seidenbluse mit weiten Ärmeln, die wie ein Zelt wirkte, wenn sie die Arme erhob, und ließ sich mit Stadionchören feiern. Virginia Raggi, Roms erste Frau im Amt des Bürgermeisters, schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf, eine halbe Nacht lang. Obwohl dieser Wahlabend ja schon gar nicht mehr spannend war: Einiges sprach für die junge, telegene Anwältin von der Protestpartei Movimento Cinque Stelle; vor allem aber sprach alles gegen ihre diskreditierten Gegner, linke wie rechte, die Rom in den vergangenen Jahren mit kriminellen Machenschaften oder durch schiere Inkompetenz zugrunde regiert hatten. Raggi konnte die Bürgermeisterwahl eigentlich nicht verlieren.

Überraschend ist jedoch das Ausmaß ihres Sieges, und dafür kann sie schon etwas. Sie hat in der Stichwahl den Kandidaten des sozialdemokratischen Partito Democratico, Roberto Giachetti, mit 67,2 zu 32,8 Prozent geschlagen. Zwei von drei Römern wählten "la Raggi". Giachetti beteuert, er habe alles gegeben. Doch selbst das hat nicht gereicht. Die Linke verliert überall da, wo sie früher, in Zeiten alter Gesetzmäßigkeiten und ideologischer Schemen, locker gewonnen hätte: in den Peripherien. Sie gewinnt nur noch im historischen Zentrum und in den Residenzvierteln der Bourgeoisie im Norden der Stadt. Eine umgekehrte Welt ist das - oder eben die Welt von heute.

Man verzieh ihr alle Fehler - sogar, dass sie ihren Lebenslauf frisiert hat

Beppe Grillo, Gründer und Chef der Cinque Stelle, zeigte sich in der Nacht des Triumphs am Fenster seines Hotels in Rom, riss die Hände theatralisch in die Höhe und verkündete: "Das ist nur der Anfang, alles wird sich verändern." Nun, der Anfang ist auch ein großer Test. Seine junge Partei hat noch nie so viel exekutive Macht gehabt wie nun in Rom. Und wo sie schon regiert, etwa in Parma und Livorno, läuft es nicht sehr gut. Scheitert Virginia Raggi an der Aufgabe, könnte der Anfang auch das Ende sein. Nirgends ist das Schaufenster größer als in der Hauptstadt.

Im weißen Gewand ließ sich die Siegerin feiern: "la Raggi" will Rom mit Transparenz und Ehrlichkeit führen. (Foto: Alessia Pierdomenico/Bloomberg)

Raggi tingelte einige Monate lang durch alle Medien, trat in Talkshows auf, erwies sich dabei als erstaunlich zäh und selbstbewusst für eine Newcomerin, und dennoch schreibt die Zeitung Corriere della Sera: "Wir wissen wenig bis gar nichts über sie." So viel weiß man aber: Raggi ist Römerin, 37 Jahre alt, hat einen Sohn, den fünfjährigen Matteo, den sie bei jeder Gelegenheit als Grund für ihr politisches Engagement anführt. Sie studierte Rechtswissenschaften an der Universität Roma Tre, spezialisierte sich in Copyright und Neuen Technologien. Danach arbeitete sie vier Jahre lang in der Anwaltskanzlei von Cesare Previti, einem ehemaligen Verteidigungsminister und Freund Silvio Berlusconis, der wegen Korruption verurteilt wurde.

In ihrem Curriculum unterschlug sie diese politisch verfängliche Etappe ihrer Karriere, was man ihr als Opportunismus auslegte. Im Lebenslauf steht nur, sie habe ihr Praktikum in einer "großen römischen Kanzlei" absolviert. Nach der Geburt Matteos spürte sie in sich eine Mission: "Ich musste in die Politik", sagte Raggi in einem Interview mit dieser Zeitung, "als mir bewusst wurde, dass alles um uns herum zerfällt - ich musste es für die Zukunft meines Kindes tun".

Sie sagte auch einmal: "Rom wurde vergewaltigt von der Politik." Mit ihrem Mann gründete sie den Ableger der Cinque Stelle im XIX. Stadtbezirk, wo sie leben. Zwei Jahre später wurde sie in den Stadtrat gewählt, als Oppositionelle. Der großen Öffentlichkeit fiel sie selten auf. Als dann im vergangenen Herbst die Stadtregierung aufgelöst werden musste und vorzeitige Neuwahlen angesetzt wurden, gewann Raggi die interne Parteiwahl mit gerade einmal 1764 Stimmen - online.

In Turin entthront die Kandidatin der Cinque Stelle einen erfolgreichen Bürgermeister

Im Wahlkampf versprach sie Transparenz und Ehrlichkeit. Jede Ausgabe der Stadtverwaltung werde sie im Netz publizieren, einsehbar für alle Bürger. Als erstes aber, so sagte sie, werde sie die Schulden der Stadt einer unabhängigen Prüfung unterziehen lassen: Rom hat mehr als 13 Milliarden Euro Schulden. Und natürlich versprach sie den Römern auch, dass sie die Probleme mit dem Müll, mit den Schlaglöchern, mit dem öffentlichen Verkehr angehen werde. Und zwar endlich effizient. Sie will 1,2 Milliarden Euro im Jahr sparen, teilte aber gleichzeitig allen Beamten im aufgeblasenen römischen Verwaltungsapparat mit, dass sie nichts zu befürchten hätten. Sogar die Taxifahrer der Stadt, eine mächtige Lobby, umgarnte sie. Es war ein Balanceakt zwischen allen Seelen der Stadt, um möglichst viele Stimmen zu holen.

Einmal räumte Raggi ein, auch sie besitze keinen Zauberstab. Doch das ging unter. Man verzieh ihr alles: Fehltritte, Inkohärenzen, sogar, und dass sie es bis zuletzt nicht schaffte, zehn fähige Leute zu finden, die ihre Stadtregierung bilden könnten. Viele sagten ab. Offenbar störte die Wähler auch nicht, dass Raggi für jede größere Entscheidung die Zustimmung der Partei einholen muss und dass Grillo sie jederzeit aus der Partei werfen kann. Das unbekannte Neue klingt in den Ohren vieler Römer so viel besser als das einschlägige Alte, dass das Rennen von vorneherein entschieden war. Raggis Unerfahrenheit war ihr größter Trumpf. Als sie vor die Presse trat, hing hinter ihr ein großes Foto der Stadt im Dämmerlicht. Oder war es Morgenrot? Man weiß es nicht so recht.

Überraschender noch als Raggis Sieg in Rom war der Triumph ihrer Parteikollegin Chiara Appendino in Turin, der früheren Industriemetropole und viertgrößten Stadt Italiens. Appendino, 32 Jahre alt und Unternehmerin, war von 250 Aktivisten der Cinque Stelle per Akklamation zur Kandidatin gekürt worden. Sie schlug nun mit deutlicher Marge von 54,6 zu 46,4 Prozent Piero Fassino, der einmal Parteichef der Sozialdemokraten und Minister in Rom gewesen ist - eine nationale Politpersönlichkeit also.

Erstaunlich daran ist, dass Fassino Turin in den vergangenen fünf Jahren gut regiert hatte, wie ihm alle bescheinigen. Und das war nicht einfach: Nachdem "Mamma Fiat", wie man den Autokonzern nannte, ihre Präsenz in der Stadt heruntergefahren hatte, musste sich Turin neu erfinden - weg von der schweren Industrie, hin zur Dienstleistung. Der Wandel ist geschafft, hat aber soziale Opfer gefordert.

Wie in Rom büßte der Partito Democratico auch in Turin viele Stimmen in den dicht besiedelten Vorstädten ein, ihren einstigen Hochburgen, bei den Verlierern des Wandels und der Krise. Appendino profitierte auch davon, dass sich die Rechte geschlossen hinter sie stellte, um Fassino zu verhindern. Vielleicht ging es vielen auch darum, Matteo Renzi, dem Premier und Parteisekretär, eine Lektion zu erteilen. Chiara Appendino jedenfalls passte ideal in die Rolle: Sie entstammt einer Familie mit linkem Hintergrund, hat an der Mailänder Eliteuniversität Bocconi Wirtschaft studiert und mit einer Arbeit über Juventus Turin abgeschlossen. Auch sie ist eine junge Mutter, ihr Kind ist fünf Monate alt. Auch sie ist frisch, selbstbewusst, fernsehtauglich, eine Figur für den Generationenwechsel. Und das gefällt dem Volk, vorerst einmal.

© SZ vom 21.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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