Italien:Not im Knast

Italiens Gefängnisse sind hoffnungslos überfüllt, Vollzugsbeamte und Häftlinge werden krank - und einige sterben sogar.

Andrea Bachstein

Den kräftigen Rotwein bietet Direktor Claudio Piccari mit Stolz an. "Le sette mandate", die sieben Schlüsselumdrehungen, heißt er. Wie der "Recluso", der Eingesperrte, mit den stilisierten Gitterstäben auf dem Etikett, kommt er aus der Kellerei der Haftanstalt Velletri in Latium. Die Trauben wachsen auf den Feldern neben dem Gefängnis, eine Supermarktkette verkauft die Weine. Das klingt nach modernem Strafvollzug. Doch Velletri plagen ähnliche Probleme wie alle 206 Gefängnisse Italiens: Für sie ist offiziell der Notstand ausgerufen.

Sicherungsverwahrung

In manchen Gefängnissen in Italien ist Not am Mann.

(Foto: dpa)

Die Haftanstalten sind überfüllt. Platz haben sie zusammen eigentlich nur für 44612 Insassen, tatsächlich beherbergen sie 68527. Im Durchschnitt heißt das, auf 100 Plätze kommen 152 Gefangene, im europäischen Mittel sind es 107. Zu vielen Insassen stehen zu wenige Wachbeamte und Betreuer gegenüber, mit hässlichen Konsequenzen für alle. "Wir sind in einer kritischen Phase", sagt Franco Ionta, Leiter der Justizvollzugspolizei und Kommissar für den Gefängnisnotstand: "Das System ist an der Grenze der Führbarkeit." Und die Organisation Antigone stellt in ihrem neuen Bericht fest, dass in den überfülltesten Anstalten ungesetzliche Bedingungen herrschen. Antigone beobachtet seit 1998 mit Billigung des Justizministeriums den Strafvollzug. Es gibt Gefängnisse, in denen ein Häftling auf weniger als drei Quadratmeter lebt, sagt Antigone-Vorsitzender Patrizio Gonnella. 1300 Beschwerden für den Europäischen Gerichtshof zählt Antigone. Es geht um Artikel drei der Menschenrechtskonvention: das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafen.

Vor kurzem erregte der Tod von Simone L. im römischen Gefängnis Regina Coeli Aufmerksamkeit. 45 Kilo wog der 1,80 Meter große Mann am Ende. Er litt an psychischen Problemen, festgenommen war er wegen kleiner Drogendelikte und nicht verurteilt. Nun wird untersucht, warum er nicht ausreichend medizinisch versorgt wurde. Ein größerer Fall wurde der Tod von Stefano C. Sechs Tage nach seiner Einlieferung 2009 in Regina Coeli wegen kleiner Drogenvergehen war er tot. Den Ermittlungen nach wurde er misshandelt und schlecht versorgt.

Das mögen extreme Fälle sein, aber die Überfüllung im Knast begünstigt solche. Auch die Selbstmorde geben zu denken. 2009 brachten sich 72 Häftlinge um, in den ersten neun Monaten dieses Jahres 55. In Velletri ist die Lage weniger dramatisch, aber der Assistent des Direktors sagt, "es gibt jeden Tag Vorkommnisse". Vom Hof vor den Zelltrakten sieht man an allen Fenstergittern bunte T-Shirts, Schuhe, Handtücher hängen. Warum die Häftlinge ihre Sachen dort platzieren, wird bei einem Blick in die Zellen klar. In den zehn Quadratmeter großen Räumen stehen zwei Eisenbetten, ein paar Stühle, ein Tischchen und ein Küchenmöbel. Wo jetzt zwei eingesperrt sind, sollte nur einer sein. Der Chef-Aufseher sagt, zum Glück seien die Räume nicht höher, sonst würden Stockbetten für noch mehr Leute aufgestellt. Das Gebäude ist für 250 Gefangene geplant, nun sind 380 dort.

Nicht etwa verurteilte Mafiosi oder Schwerkriminelle belagern die Gefängnisse. Sie sind eine Minderheit. 30000 Inhaftierte sind noch gar nicht oder nicht endgültig verurteilt, ein Rekord in Europa. Prozesse können sich über Jahre ziehen. Schätzungen zufolge wird die Hälfte der Häftlinge am Ende freigesprochen. 28154 Menschen sind wegen Drogenvergehen im Knast. Es sind so viele, weil seit einigen Jahren der Besitz weicher Drogen geahndet wird wie der Besitz von hartem Stoff. Ein steter Zu- und Abgang von Leuten, die wegen geringfügiger Delikte festgenommen und kurz darauf entlassen werden, belastet den Gefängnisbetrieb zudem. Selbst Notstandskommissar Ionta sagt, bestimmte Delikte müssten entkriminalisiert und Verfahren beschleunigt werden.

Er hofft zudem auf die Angleichung der Rechtssysteme in der EU. Wenn Urteile gegenseitig anerkannt sind, können Häftlinge in den Heimatländern ihre Strafe verbüßen. Ein gutes Drittel aller Insassen sind Ausländer, allerdings stammen nicht alle aus der EU. Der Sonderkommissar sagt, die Regierung habe "Maßnahmen zur Stabilisierung des Gefängnissystems eingeleitet". Ob er wirklich Geld von der Regierung bekommt, wollte er nicht sagen. Vergangenes Jahr hatte Justizminister Angelino Alfano den Neubau von 24 Gefängnissen angekündigt, und 2000 zusätzliche Vollzugsbeamte versprochen. Auch sollten Alternativen wie Hausarrest geprüft werden. Dazu allerdings sagen Fachleute, der Aufwand zur Überwachung wäre viel zu groß. Der Justizminister sprach erst von 1,4 Milliarden Euro, dann von 600 Millionen für den Strafvollzug. Inzwischen wurde der ganze Staatsetat stark gekürzt. Aber selbst wenn Geld für Neubauten bliebe, wären sie erst in Jahren fertig.

Inzwischen wachsen Notstand und Absurditäten. So steht etwa gleich neben der Anstalt von Velletri ein fast identischer Bau, ein nagelneues Gefängnis, einzugsbereit. Direktor Piccari hofft aber, dass er es nicht in Betrieb nehmen muss. Er hat dafür kein Personal. 40 Gefängnisanlagen stehen angeblich leer, aus lauter seltsamen Gründen.

Leer ist auch meistens der Alltag derer, die einsitzen. Während in Deutschland bis zu 90 Prozent der Inhaftierten arbeiten, sind es in Italien nur zehn Prozent. Die Resozialisierung wird dadurch schwieriger. Ein Grund dafür ist die hohe Fluktuation der Häftlinge. Es lohnt sich kaum, sie einzuarbeiten. Aber es gibt noch andere Gründe. Auf dem Gefängnisgelände in Velletri existierten außer der Weinkellerei auch noch große Gewächshäuser und ein Bunker für die Pilzzucht. Aber er ist ungenutzt, und in den Treibhausbeeten verkümmern die Tomatenpflanzen. Es sind zu wenige Vollzugsbeamte da, um den Anbaubetrieb zu beaufsichtigen.

Für Unternehmen sind Häftlinge keine besonders attraktiven Kräfte. Sie erhalten den Mindestlohn und kosten so viel wie normale Arbeiter. Die Weinproduktion in Velletri beschäftigt auch nur vier bis acht Häftlinge. Und so arbeiten von den 380 Insassen gerade einmal 35, vor allem außerhalb in der Landwirtschaft.

Langeweile und Überfüllung machen Häftlinge aggressiv. Untereinander und gegen ihre Bewacher. Giovanni Battista De Blasis, Sekretär der Gewerkschaft Sappe, nennt die Lage explosiv. Sappe ist mit 15000 Mitgliedern die größte Gewerkschaft der Vollzugsbeamten. Der Stress der 38000 Bewacher schlage sich in einem Krankenstand von 30 Prozent nieder, sagt Battista De Blasis. Viele wollen vorzeitig in Pension. Um die, die ausfallen, schnell ersetzen zu können, ist die Ausbildung für den einfachen Dienst verkürzt worden.

Andrea Quattrocchi, der hünenhafte Kommandeur der Justizpolizisten in Velletri, hat es zwar lange im Beruf ausgehalten, 36 Jahre. Der Sizilianer wirkt gelassen, aber jetzt, wenige Tage, ehe er regulär in Pension geht, sagt er: "Ich muss mich zuerst mal entgiften von alldem hier."

Seit 2001 ist die Zahl der Beamten um 6000 reduziert worden, derzeit ist jeder für 80 bis 90 Gefangene zuständig. Die Gewerkschaft Sappe sagt, es fehlten mindestens 7000 Justizpolizisten. Sie werden geschult, auch an der Waffe, in Ausbildungszentren wie dem an der Via Aurelia an Roms Stadtrand. Dort sieht man Justizpolizisten beim Nahkampftraining mit Schlagstock und Schild aufeinander losdreschen. Sie üben für den Einsatz bei Demonstrationen und bei Revolten.

Auch die mobile Einsatzgruppe GOM hat dort ihren Stützpunkt, eine Eliteeinheit mit 600 Mann. Sie bewachen Mafiabosse in Hochsicherheitstrakten, begleiten Richter, die Morddrohungen erhalten. Ihre Arbeit ist hart. Spätestens alle sechs Monate werden sie versetzt, um Drohungen oder Bestechungsversuchen aus dem Weg zu gehen. Mehr Geld als die übrigen Beamten verdienen die GOM-Leute nicht, meist um die 1300 Euro. Ihre deutschen Kollegen bekommen im Durchschnitt 2000 Euro. Sappe-Generalsekretär Donato Capece stehen die Sorgen ins Gesicht geschrieben. Er sagt, nicht nur die Häftlinge, auch die Vollzugsbeamten müssten die Missstände ausbaden. Ihnen würden große Opfer abverlangt. Unlängst hat er sich wieder beim Justizminister und bei Ionta beschwert, dass außer Versprechen nichts passiere. Weder Gehaltserhöhungen, noch Fortbildung, noch Anerkennung für den Beitrag der Justizpolizei zur inneren Sicherheit.

Der Jurist und Antigone-Vorsitzende Gonnella war selbst Gefängnisleiter. Er kennt die Missstände, dass etwa die Resozialisierung zu kurz kommt oder draußen Therapieeinrichtungen halbleer stehen, während sich Drogensüchtige im Knast drängen. Er glaubt, dem Gefängniskommissar Ionta fehle die politische Rückendeckung für schnelle Hilfe, etwa Containerbauten, wie sie in Deutschland bei Platznot errichtet wurden. Dazu komme, dass Menschenrechte kaum ein politisches Thema in Italien seien. Bis in die neunziger Jahre, sagt Gonnella, sei Italiens Strafvollzug sehr gut gewesen, eine Art Avantgarde. Doch seit dem Ende des alten Parteiensystems mit christlich wie links geprägten Ansätzen spiele das Thema für Politiker kaum mehr eine Rolle, sei unattraktiv. Denn viele Bürger fänden, in schlechten Zeiten gebe es Wichtigeres, als Gefängnisse zu finanzieren.

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