Italien:Nachsichtige "Erbsenzähler"

Im Dezember stimmt das Land über die Verfassungsreform seines Premiers ab. Renzi setzt auf Tiraden gegen Europa - doch ausgerechnet von den "Technokraten in Brüssel" kommt nun Wahlkampfhilfe.

Von Oliver Meiler und Alexander Mühlauer, Rom/Brüssel

Matteo Renzi wusste schon, was kommt. Am Mittwoch attestierte die Europäische Kommission dem italienischen Premier nur das, worauf er es ohnehin angelegt hatte. Italien könne mit seinem Etat-Entwurf für das Jahr 2017 gegen die Regeln des europäischen Stabilitätspakts verstoßen, teilte die Brüsseler Behörde mit. Das war es dann aber auch schon. Keine Rüge, keine Drohung, nichts weiter. In der Kommission überwiegt die Meinung, dass es angesichts des bevorstehenden Verfassungsreferendums am 4. Dezember in Italien kontraproduktiv wäre, Renzi besonders zu bevormunden oder gar einen Blauen Brief nach Rom zu schicken.

Also stellten die Brüsseler Kommissare lediglich das fest, was die Zahlen vermuten lassen. Neben Belgien, Litauen, Slowenien, Zypern und Finnland läuft eben auch Italien Gefahr, 2017 gegen die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu verstoßen. Die Regierung in Rom rechnet im kommenden Jahr mit einer Neuverschuldung von 2,3 Prozent der Wirtschaftsleistung. Mit der Kommission waren allerdings 1,8 Prozent vereinbart worden.

Renzi hat zuletzt ausgiebig Sizilien besucht: Dort gibt es besonders viele Unentschiedene

Der Premier aus Rom wirft der EU-Kommission im Umgang mit dem Pakt schon länger "Erbsenzählerei" vor. Er dringt auf mehr "Flexibilität" bei der Auslegung der Kriterien. Und immerhin: EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici kündigte nun an, dass die Kosten für die Bewältigung der Flüchtlingskrise sowie für Schäden der verheerenden Erdbeben in Italien bei der letztendlichen Haushaltsentscheidung im kommenden Jahr berücksichtigt werden können. Für Renzi ist das eine gute Nachricht, man könnte auch sagen: eine äußerst willkommene Wahlkampfhilfe aus Brüssel. Vor allem aber ist es ein Erfolg für Renzi.

Trotzdem wird es von ihm weiter Tiraden gegen "dieses Europa" zu hören geben. Dazu passt auch sein vorläufiges "Veto" zum EU-Haushalt für das kommende Jahr, über den am Mittwoch in Brüssel verhandelt wurde. Italien werde auf gar keinen Fall zustimmen, wenn sein Land beim Umgang mit den Flüchtlingen nicht stärker finanziell unterstützt werde, sagte Renzi. Diese und andere Sprüche dienen einem klar umrissenen Ziel: Sie sollen das Gehör jener Italiener erreichen, die sich mit der sperrigen Materie der Verfassungsreform nicht mobilisieren lassen, insgesamt aber unzufrieden sind mit dem Euro und der Europäischen Union - und das sind viele Italiener.

Umfragen zeigen, dass der italienische Premier dann besonders gut ankommt bei seinen Landsleuten, wenn er "la voce grossa" macht, wenn er laut wird mit den "Technokraten in Brüssel", den "Mauerbauern" und "Erbsenzählern". Renzi reitet also auf der Anti-Establishment-Welle, um für das Referendum zu mobilisieren, was für einen Regierungschef eine eher abenteuerliche Rollenvermischung ist. Doch vielleicht ist es seine letzte Chance auf einen Sieg am 4. Dezember. Es läuft bereits die Schlussphase der Kampagne, und wenn man den Demoskopen glauben kann, dann liegt das Lager der Gegner vorne: mit 53 Prozent. Die Tendenz hin zu einem "No" hat sich in den vergangenen Wochen zusehends gefestigt.

Alle Hoffnung Renzis ruht auf dem nach wie vor großen Anteil Unentschiedener und möglicher Stimmabstinenzler, die in den Umfragen ebenfalls ausgewiesen sind. Bis zu zwanzig Prozent der Italiener sollen demnach noch immer schwanken zwischen "Ja", "Nein" und Stimmenthaltung. Besonders groß ist die Zahl der Abstimmungsmüden traditionell im wirtschaftlich schwachen Mezzogiorno, im Süden des Landes, und dort vor allem in Sizilien mit seinen 4,5 Millionen potenziellen Wählern. 21 Prozent Arbeitslosigkeit, kaum Perspektiven für die Jungen, ein pauschales Gefühl der Ausgrenzung - alle Ingredienzien für ein Protestvotum sind da vereint.

Und so bedenkt Renzi die Insel mit vielen Besuchen. Dieser Tage trat er in schneller Folge in Catania, Ragusa, Siracusa, Caltanissetta, Agrigento, Marsala und Palermo auf. Er versprach wieder viel, unter anderem neue Infrastrukturen und Jobs. Selbst das kontroverse und wohl nicht sehr aussichtsreiche Projekt einer Brücke über die Straße von Messina wird wieder bemüht. Auffällig oft verweist er neuerdings auf sein Alter: "Ich bin 41", hört man Renzi dann sagen. Er will seine Jugendlichkeit als Beleg dafür verstanden haben, dass er für den Wandel stehe, für das Neue, für die Ambitionen der Jungen, während seine Gegner der alten Elite angehörten, den Bewahrern und Privilegienreitern.

Auch das ist ein unverhohlener Wink an eine unentschiedene Stimmgruppe. Neben den Süditalienern gelten auch die Jungen als schwer mobilisierbar. Viele zweifeln offenbar daran, dass eine neue Verfassung ihre prekären Zukunftschancen verbessern könnte.

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