Italien:Land in Seenot

Italien: Die Golfo Azzurro 2017 bei einem Rettungseinsatz im Mittelmeer, damals im Auftrag der spanischen Organisation „Open Arms“.

Die Golfo Azzurro 2017 bei einem Rettungseinsatz im Mittelmeer, damals im Auftrag der spanischen Organisation „Open Arms“.

(Foto: Emilio Morenatti/AP)

Die Regierung in Rom ist verärgert über die privaten Helfer im Mittelmeer: Sie würden Menschen zwar retten, aber dann einfach in den Häfen abladen und sich dafür feiern lassen.

Von Stefan Ulrich

Die Nachricht erreichte den italienischen Innenminister Marco Minniti auf einer Reise in die USA: 22 Schiffe mit 12 000 Flüchtlingen und Migranten an Bord sind im zentralen Mittelmeer auf Kurs Richtung Italien. Damit war das Maß des Machbaren für den Minister offenbar überschritten. Minniti ordnete bei einer Zwischenlandung in Irland an, umzudrehen und zurückzufliegen. Was da auf die Häfen seines Landes zukomme, erfordere seine Anwesenheit in Rom. "Und sofortige Entscheidungen."

Die erfolgten prompt. Nur einen Tag später, am Mittwoch, protestierte der italienische EU-Botschafter in Brüssel bei Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos, das Maß sei voll, die Aufnahmefähigkeit Italiens sei überschritten. Und dann drohte der Botschafter laut dem Corriere della Sera: "Italien könnte aus Gründen der nationalen Sicherheit gezwungen sein, seine Häfen für Schiffe von Nichtregierungsorganisationen zu blockieren."

Schiffe der italienischen Küstenwache, der EU-Mission Sophia, der EU-Grenzagentur Frontex sowie von etlichen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), zum Beispiel aus Deutschland und Italien, retten derzeit im Mittelmeer Flüchtlinge von oft seeuntüchtigen Kuttern und Gummibooten. Sie bringen die erschöpften, dehydrierten oder kranken Menschen dann in möglichst nahe gelegene, sichere Häfen - und diese befinden sich in Italien. Laut dem Innenministerium kamen so allein seit Januar dieses Jahres mehr als 73 000 Flüchtlinge an den Küsten des Landes an. Nun fürchtet die Regierung in Rom, dass die Zahlen sogar noch steigen. Die Aufnahmezentren sind jedoch schon jetzt überfüllt.

Zudem wächst in dem Land, das sich beim Empfang von Flüchtlingen im europäischen Vergleich seit Jahren offen und großzügig zeigt, der Widerstand. Rechte Parteien wie die Forza Italia und die Lega Nord, aber auch die Protestbewegung der Fünf Sterne setzen die linksliberale Regierung mit dem Thema Migration unter Druck. Und in Italien wird bald ein neues Parlament gewählt. Das dürfte ein Grund dafür sein, warum Rom jetzt droht, seine Häfen zu schließen.

Die Warnung wird von Teilen der Opposition und vielen Kommentatoren unterstützt

Der Vorstoß erfolgt offenbar orchestriert. Von Staatspräsident Sergio Mattarella über Premierminister Paolo Gentiloni bis zu Innenminister Minniti warnen alle: Wenn weiter so viele Afrikaner über die Mittelmeerroute von Libyen nach Italien kommen wie in jüngster Zeit, sei das Land überfordert. Europa dürfe sich nicht abwenden oder mit der Überweisung von etwas Geld begnügen. Es müsse Rom logistisch helfen und dafür sorgen, dass nicht mehr so viele Menschen in den italienischen Häfen ankommen. Sonst sollen schon bald NGO-Schiffe, die unter nicht-italienischen Flaggen fahren, abgewiesen werden. Später könnten sogar Schiffe europäischer Missionen folgen.

Die Drohung steht nun im Raum, und sie wurde am Donnerstag von Teilen der Opposition, aber auch von vielen Kommentatoren in den Medien unterstützt. Dabei ist es rechtlich sehr fraglich, ob Italien die oft überfüllten Boote mit zumindest zum Teil notleidenden Flüchtlingen einfach wegschicken darf. So verpflichtet das Seevölkerrecht die Staaten dazu, dass unter ihrer Flagge fahrende Schiffe Menschen in Seenot retten und in sichere Häfen bringen. Dabei ist es üblich, die nächstgelegenen Häfen anzusteuern.

Aber auch praktisch ist es schwer vorstellbar, dass Italien die Drohung wahr macht. Gewiss: Aus dem Palazzo Chigi, dem Sitz des Premiers, heißt es, die Regierung könne die Einsatzzentrale der Küstenwache anweisen, Schiffe mit Flüchtlingen bereits auf offener See abzuweisen. Doch was passiert, wenn deshalb Menschen sterben? Oder sich, vor den Kameras der Weltöffentlichkeit, verzweifelt ins Wasser stürzen? Oder wenn überladene Schiffe mit vielen Frauen und Kindern an Bord tagelang in der Sommerhitze vor der italienischen Küste herumdümpeln?

Die EU-Kommission bietet mehr Geld an, doch das dürfte Rom nicht reichen

Es ist unwahrscheinlich, dass die Regierung in Rom solche Szenen in Kauf nehmen möchte. Die Blockade-Drohung erscheint eher als Hilferuf und Appell an die Partner in der Europäischen Union, ihrer Mitverantwortung gerecht zu werden. Italien fordert sei Jahren mehr Unterstützung dabei, das Flüchtlingsproblem zu bewältigen. Nur weil das Land nun mal in der Mitte des Mittelmeeres liege, dürfe man es nicht mit dem Problem alleinelassen. "Die Migranten-Frage ist eine europäische Frage", sagt Innenminister Minniti. Doch Italien komme sich vor, als ob es den Mond anheule. Besonders verärgert die Italiener, dass sich die NGOs, die Menschen auf dem Meer aufnehmen, als Retter feiern lassen, nur um die Flüchtlinge dann in Italien abzuladen. Eine Forderung Roms lautet daher, die Länder, unter deren Flagge die Schiffe der NGOs fahren, sollten die jeweils geretteten Flüchtlinge selbst in Empfang nehmen. Die Pflicht zur Rettung und die Pflicht zur Aufnahme dürften nicht voneinander getrennt werden.

In Europa ist die Botschaft angekommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte Italien am Donnerstag weitere Hilfe zu. EU-Kommissar Avramopoulos lobte den "vorbildlichen" Umgang des Landes mit der Flüchtlingskrise. Die Kommission werde Rom stärker unterstützen, zum Beispiel mit mehr Geld. Das wird Italien nicht reichen. Neben einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge - der sich osteuropäische EU-Mitglieder verweigern - fordert die Regierung Gentiloni, Libyen stärker zu unterstützen, damit von dort nicht mehr so viele Menschen aufs Meer hinausfahren. Der italienische Präsident des Europaparlaments, Antonio Tajani, fordert gegenüber der Nachrichtenagentur Ansa: "Nach der Schließung der Balkanroute (also im Jahr 2015) ist es unerlässlich, auch die zentrale Mittelmeerroute zu schließen."

Das ist leichter gefordert als umgesetzt. Libyen ist ein zerrissenes Land, die international anerkannte Regierung kontrolliert es nur zum Teil. Warlords und Verbrecherbanden mischen im Geschäft mit den Flüchtlingen mit. Das wissen die Italiener natürlich. Doch sie möchten nicht, dass es allein ihr Problem bleibt. Innenminister Minniti sagt: "Wir haben in diesen Monaten bewiesen, dass wir das Migrantenproblem ernsthaft angehen. Jetzt fordern wir, dass Europa ernsthaft mit uns umgeht."

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