Italien:Jeder macht, was er will

In anderen Ländern der Welt, die auf seismischem Boden stehen, stirbt man nicht, wenn die Erde mal mit Stärke 4 bebt. In Italien schon. Schuld ist der "abusivismo", das Bauen gegen Normen und Gesetze. Der Staat sieht zu.

Von Oliver Meiler

Menschen sterben in Italien "absurde Tode". So beschreibt es der Verband italienischer Geologen, und ihnen sollte man in diesen Tagen zuhören. Wieder hat in Italien die Erde gebebt, fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Unglück von Amatrice. Dort sind die Trümmer noch nicht weggeräumt. Diesmal traf es das vulkanische Ischia, eine prächtige Insel vor Neapel mit reicher Flora und heißen Quellen, beliebt bei Urlaubern aus der ganzen Welt, etwa bei Angela Merkel. Das Beben hatte Stärke 4, es war also relativ schwach. In anderen Ländern der Welt, die auf seismischem Boden stehen, stirbt man nicht, wenn die Erde mal mit Stärke 4 bebt. In Italien schon, absurderweise. Auf Ischia traf es zwei Frauen. Sie wurden von Trümmern erschlagen.

Die Wörter Absurdität und abusivismo weisen einen unheimlichen Gleichklang auf. Im Italienischen steht der Begriff - abgeleitet von "abuso", Missbrauch - für alles, was missbräuchlich entsteht. Im Bauwesen ist der abusivismo besonders verbreitet, er ist dort beinahe Standard. Der Anteil der Häuser, die in Italien über die Jahrzehnte normwidrig gebaut wurden, ohne Bewilligungen und ohne Rücksicht auf die Auflagen zum Schutz von Mensch und Natur, liegt gemäß Schätzungen bei 60 Prozent. Dieser Wert wäre schon in einem Land mit ruhigem Boden grotesk. In Italien ist er schierer Wahnsinn. Viele Katastrophen zeugen davon, im Norden wie im Süden. Doch das Lamento dauert stets nur kurz, es erstickt im Fatalismus.

Viele Politiker stehen auf Seiten der Bausünder

Sinn für Prävention kam nie auf: Zehn Millionen Häuser in den Erdbebengebieten gelten als einsturzgefährdet, Risikostufe 1 und 2. Stattdessen ist der abusivismo zur Kultur gereift. Viele Italiener bauen missbräuchlich, weil es erstens billiger ist, weil man sich zweitens den langen Gang durch die Ämter ersparen kann - und weil drittens immer die Aussicht auf einen sogenannten "condono", einen Baugenehmigungserlass, besteht. Solche "Amnestien" gibt es alle paar Jahre. Man brauchte sich nur um den Erlass zu bewerben. Auf Ischia, wo außerhalb der Hochsaison nur 50 000 Menschen leben, sind 27 000 solche Gesuche gestellt worden. Natürlich waren ein paar Häuser dabei, die in Zeiten erbaut wurden, da es viele Vorschriften noch nicht gab. Doch 27 000 ist schon ziemlich viel, ausgerechnet auf Ischia!

Zwischendurch droht der Staat mit der Abrissbirne. Doch nur selten macht er ernst, er ist verschreckt von rabiaten Bürgerbewegungen. Auf Ischia wurden weniger als ein Prozent der Häuser abgerissen, deren Schicksal bereits definitiv gezeichnet zu sein schien.

Es ist nicht so, dass die Bürger allein die Schuld träfe für das illegale und sorglose Bauen. Es finden sich immer Architekten, die bereit sind, zusätzliche Etagen auf gefährdete Häuser zu setzen, und Bauunternehmer, die diese dann mit viel zu schweren Betonplatten überdachen. Solche Betonplatten sieht man auf den Trümmerhaufen von Amatrice und Ischia. Sie haben alles platt gedrückt.

Nun reden wieder Politiker von der Notwendigkeit einer Kehrtwende, einer kollektiven Besinnungsübung. Doch Rigorismus war noch nie populär in Italien, auf diesem Gebiet schon gar nicht. Bei Wahlen, gerade im Süden, erhalten in der Regel jene Parteien am meisten Stimmen, die sich wortreich auf die Seite der Bausünder schlagen, gegen die Abrissbagger, gegen den Staat. Im Parlament scheitern härtere Vorschriften am Veto von Politikern aus Sizilien, Kalabrien und Kampanien. In diesen Tagen wird wieder darüber debattiert, ob das Gesetz einen Passus zum "Abusivismo di necessità" vorsehen sollte, dem Missbrauch aus Not. Als hätten ärmere Bürger ein sakrosanktes Recht darauf, sorglos bauen zu dürfen. Das ist gefährlich, lebensgefährlich. Und tödlich absurd.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: