Italien:An Haupt und Gliedern

Das Land steht vor der größten Verfassungsreform seiner Geschichte. Das macht den Menschen Angst, könnte aber auch das Chaos in der Politik beenden.

Von Oliver Meiler

Es ist schon bemerkenswert, wie leidenschaftlich die Italiener über die Verfassung ihrer Republik diskutieren. Mit wie viel Verve und zivilem Engagement. In Talkshows, auf den Meinungsseiten der Zeitungen, bei den öffentlichen Veranstaltungen von hoffnungsfrohen Bewahrern und Modernisierern - überall werden Passagen des Grundgesetzes verhandelt, als redete man über Fußball.

Und so lädt sich das Referendum über Matteo Renzis Verfassungsreform vom 4. Dezember emotional derart auf, dass man meinen könnte, die Abstimmung sei so wichtig wie der Beschluss über den Brexit oder die Wahl in Amerika. Die Befürworter behaupten, bei einem Nein drohe Italien mindestens eine halbe Apokalypse. Die Gegner wiederum warnen, bei einem Ja dräue ein autoritäres Regime. Beide Seiten übertreiben. Aber historisch ist der Entscheid allemal, wenigstens für Italien, eine Weichenstellung.

Die Verfassungsreform würde Italien guttun - aber kommt sie?

Renzis Reform sieht im Kern eine große Veränderung vor: Sie überwindet den sogenannten bicameralismo perfetto, jenes System also, das vorsieht, dass alle Entscheidungen, kleine wie große, in der exakt selben Formulierung von den zwei genau gleich starken Kammern des Parlaments verabschiedet werden müssen, damit sie gelten. Würde der Senat nun radikal gestutzt, sowohl in Sitzen wie in Kompetenzen, und zu einer Regionalvertretung umfunktioniert, dann wäre das legislative Zusammenspiel fortan ähnlich wie in den meisten Ländern Europas. Etwas effizienter, schlanker - und billiger.

Kein Land im Westen leistet sich ein so großes und teures Parlament wie die Italiener. Künftig bräuchten Kabinette nur noch das Vertrauen der Abgeordnetenkammer, um regieren zu können, was wahrscheinlich ihrer Stabilität förderlich wäre. In den vergangenen siebzig Jahren hat Italien zum Spott des Ausland mehr als sechzig Regierungen verschlissen. Renzi spricht gerne von "palude", vom alten Morast der italienischen Politik und deren Machtspielchen.

Dass das Zweikammersystem abgeschafft gehört, darüber sind sich eigentlich alle Parteien einig. Doch bei diesem Referendum geht es schon lange nicht mehr nur um den Inhalt der Reform, so leidenschaftlich auch darüber diskutiert wird. Die Abstimmung ist zum Plebiszit für oder wider Matteo Renzi verkommen. Der Premier hatte die alberne Idee, die Abstimmung zu personalisieren. Verliere ich, sagte er, trete ich zurück. So sicher war er sich. Seitdem stellt sich die gesamte Opposition, von den Kommunisten über die Postfaschisten bis zur Bewegung der Cinque Stelle, kompakt gegen die Reform. Selbst Leute aus dem rebellischen linken Flügel von Renzis Partito Democratico, die im Parlament noch für die Reform gestimmt hatten, sind nun dagegen. Alle wollen sie ihn stürzen sehen.

Renzi schlägt aber auch Widerstand aus der Zivilgesellschaft entgegen, eine noble gewissermaßen, die ideell argumentiert und sich um die Demokratie sorgt. Es gehören ihr Verfassungsrechtler und Intellektuelle an, viele betagte Herrschaften. Sie neigen dazu, die alte Verfassung von 1947 als die schönste der Welt zu verklären, "la più bella del mondo". Geboren im Antifaschismus, ein Bollwerk gegen jede autoritäre Versuchung. Ginge es nach ihnen, dürfte das Grundgesetz nie revidiert werden, in keinem Teil.

Zu Recht monieren sie aber, dass die Kombination aus dem neuen Wahlgesetz, dem "Italicum" mit seiner Sitzprämie für den Wahlsieger, und der neuen Verfassung die Exekutive drastisch stärkt - vielleicht einen Tick zu drastisch. Renzi hat die Kritik aufgenommen und verspricht eine Korrektur. Recht haben die Puristen auch in ästhetischer Hinsicht: Die Reform ist nicht sonderlich schön geworden. Sie ist ein Flickwerk, Frucht vieler Kompromisse, genäht mit tausend Kommas. Zwei Jahre und insgesamt sechs Lesungen brauchte es, um die 47 neuen Verfassungsartikel durchs Parlament zu bringen. Da kann nicht alles gut sein.

Doch nie war Italien so nahe dran, sein politisches System zu überholen und zu modernisieren. Glaubt man den Umfragen, was man in diesen wirren Zeiten ja nicht mehr so leichtherzig tut, liegt das Nein vorne. Ein stattlicher Teil der Italiener hat sich noch nicht entschieden. Und so reist Matteo Renzi in diesen letzten Tagen vor dem Referendum unentwegt durch das Land. Manchmal tritt er an einem Abend in zwei Städten auf. Und redet und redet und redet. Auf allen Sendern. Er hofft auf die Macht der "stillen Mehrheit", wie er sie nennt, die für seine Reform stimmen werde, ganz bestimmt. Weil er mit seinen 41 Jahren das Neue sei, der Bruch mit dem alten Establishment, der Trockenleger des Morasts der Republik. Die stille Mehrheit also: Es hört sich wie eine verzweifelte Beschwörung an.

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