Israelischer Soldat soll freikommen:Warum Gilad Schalit für Israel so wichtig ist

Die Mehrheit der Israelis feiert: Der Soldat Gilad Schalit soll nach mehr als fünf Jahren Geiselhaft gegen 1027 palästinensische Gefangene ausgetauscht werden. Wer ist dieser junge Mann, wieso hat der Fall für Israel so große Bedeutung und wer profitiert von dem Deal?

Matthias Kolb

Wer ist Gilad Schalit?

Der damals 19 Jahre alte Soldat Gilad Schalit wurde am 25. Juni 2006 in Israel von der Hamas verschleppt. Militante Palästinenser nutzten dafür einen Tunnel, der aus dem Gaza-Streifen nach Israel führt. Zwei israelische Soldaten starben bei dem Angriff, drei weitere wurden verwundet. Schalit selbst soll an der Schulter und der Hand verletzt worden sein.

Trotz mehrfacher Bitten durfte das Internationale Rote Kreuz den jungen Mann nicht im Gaza-Streifen auf- und untersuchen. Zuletzt war im September 2009 ein Video von ihm aufgetaucht, auf dem er schmal und bleich aussah. Schalit, der zum Zeitpunkt seiner Entführung Hauptgefreiter war, ist mittlerweile zum Unteroffizier befördert worden.

In den vergangenen fünf Jahren bildete sich vor allem in Israel eine große Solidaritätsbewegung, im Internet finden sich verschiedene Websites, die sich für die Freilassung Schalits und Frieden im Nahen Osten einsetzen. Auch Schalits Familie kämpft seit Jahren für die Freilassung: Die Eltern und Gilads Bruder Joel sowie Freunde und Unterstützer harrten monatelang vor dem Amtssitz von Premier Benjamin Netanjahu aus. Israelischen Medien zufolge hat sich Netanjahu am Dienstagmittag mit Noam Schalit, dem Vater, getroffen und diesen über den geplanten Tauschhandel informiert.

Was waren die Forderungen der Hamas und wieso dauerte die Freilassung so lange?

Die Entführer der Hamas haben seit 2006 verschiedene Angaben gemacht, unter welchen Bedingungen sie bereit wären, ihre Geisel freizulassen. Im Kern ging es jedoch stets um die Freilassung von Palästinensern aus israelischer Haft. Zunächst hatte die Hamas laut BBC die israelische Regierung aufgefordert, alle Frauen und Jugendlichen zu entlassen - erst dann würden sie ein Lebenszeichen und Nachrichten über Gilad Schalit geben.

Nachdem Israel Gespräche mit der radikalislamischen Hamas anfangs abgelehnt hatte, begannen schließlich Diplomaten und Geheimdienstmitarbeiter aus Ägypten und Deutschland mit den Verhandlungen - neben der Hamas in Gaza musste auch die Exil-Führung in Damaskus eingebunden werden. Im November 2009 scheiterte eine Vereinbarung im letzten Augenblick.

Damals erläuterte ein Kommandeur der Kassam-Brigaden, eines bewaffneten Arms der Hamas, in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung das eigene Kalkül: "Für einen Soldaten bekommen wir tausend Gefangene, das ist doch unser Sieg." Israelische Gegner eines Austauschs, die sich auch im Kabinett Netanjahus finden, verweisen auf diese menschenverachtende Berechnung und fürchten einen Präzedenzfall.

Innerhalb der drei israelischen Geheimdienste gab es lange Zeit die Angst, die freigelassenen Gefangenen würden erneut für Unruhe sorgen und womöglich eine neue Intifada auslösen - also einen weiteren Aufstand gegen Israel. Seit jedoch die Führungsriege der Dienste ausgetauscht wurde, wird diese Gefahr der New York Times zufolge als weniger dramatisch eingestuft. Zudem seien Auflagen denkbar, wonach einige Häftlinge, von denen große Gefahr drohe, nicht in ihre palästinensischen Heimatstädte zurückkehren dürfen. Sie müssten stattdessen ins ausländische Exil gehen.

Warum ist der Fall für Israel so wichtig?

Israel begreift sich als die einzige Demokratie im Nahen Osten und fühlt sich nahezu komplett von Feinden umgeben. Die Gesellschaft ist in hohem Maße militarisiert, sowohl junge Männer als auch junge Frauen müssen als Wehrpflichtige in der Armee dienen; zudem finden regelmäßige Übungen der Reservisten statt. Viele Eltern kennen also die Sorge, dass ihre Kinder während ihrer Dienstzeit in gefährliche Aktionen verwickelt sein oder entführt werden könnten.

Daher finden die Aktionen von Noam und Aviva Schalit, mit denen sie an das Schicksal ihres Sohns erinnern und die Regierung zum Handeln auffordern, auch breite Unterstützung in der Gesellschaft - zu den Hunderttausenden Israelis, die sich mit den Schalits solidarisch erklärt haben, gehört zum Beispiel der Schriftsteller David Grossman, dessen Sohn im Libanonkrieg getötet wurde. Auch bei den Sozialprotesten im Sommer hatten sich Demonstranten für die Freilassung Schalits eingesetzt.

Die israelische Armee tut alles, um Verschleppungen zu verhindern: Gemäß der sogenannten Hannibal-Direktive sind Soldaten angehalten, das Feuer auf Entführer zu eröffnen, auch wenn dadurch die Geisel verletzt werden könnte. Die BBC berichtet von Zeugenaussagen, wonach in früheren Jahren auch der Tod des entführten Soldaten in Kauf genommen wurde. Bereits in der Grundausbildung werden die jungen Israelis darauf gedrillt, verletzte oder getötete Kameraden nicht in feindlichem Gebiet zurückzulassen. Auch deshalb müssen Soldaten kilometerlange Märsche mit Tragen über hügeliges Gelände und in größter Sommerhitze absolvieren.

Nach Einschätzung von Beobachtern spielt in die Anstrengungen, die Israel in die Überführung von Verstorbenen steckt, auch die Erfahrung des Holocausts hinein: Hunderttausende Juden wissen nicht, wann und wo ihre Angehörigen im Dritten Reich getötet wurden und ob sie begraben worden sind.

Gemäß dem jüdischen Glauben sollte ein Verstorbener so vollständig wie möglich bestattet werden. Deswegen hatte etwa 2004 der Premier Ariel Scharon etwa 450 libanesische und palästinensische Gefangene freigelassen, um die Leichen von drei israelischen Soldaten und einem von der Hisbollah entführten Geschäftsmann zu erhalten. 2008 tauschte der Premier Ehud Olmert fünf libanesische Gefangene sowie die Leichen von etwa 200 Libanesen und Palästinenser gegen die Körper der getöteten Soldaten Eldad Regev und Ehud Goldwasser aus. Beide waren kurz nach Schalit von der libanesischen Hisbollah-Miliz entführt worden.

In mindestens einem Fall ist es der israelischen Regierung trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen, einem Soldaten ein würdiges Begräbnis zu garantieren. 1986 stürzte der Pilot Ron Arad im Libanon ab: Er gilt bis heute als verschollen.

Was bedeutet der Gefangenenaustausch für den Friedensprozess?

Es erscheint paradox: Sowohl Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu als auch die Hamas könnten von einem erfolgreichen Gefangenenaustausch profitieren. Für die Hamas, die von vielen westlichen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird und das Existenzrecht Israels ablehnt, wäre die Befreiung von etwa 1000 Gefangenen ein sehr großer Erfolg, mit dem sie ihre seit einiger Zeit sinkende Popularität wieder aufbessern könnte.

Netanjahu würde zwar einen hohen Preis bezahlen, doch er bekäme nach Wochen heftiger Kritik aus dem Ausland rund um die geplante Unabhängigkeitserklärung der Palästinenser und nach monatelangen Protesten gegen die eigene Sozialpolitik endlich wieder positive Schlagzeilen. Offenbar hat die Regierung eingesehen, dass ein besserer Deal in naher Zukunft nicht möglich wäre: Dieses "Fenster der Gelegenheit" habe man nutzen müssen.

Während Hamas-Exilchef Chaled Maschaal dem TV-Sender al-Dschasira zufolge neben Ägypten auch den Regierungen in Katar, der Türkei, Syrien und Deutschland dankte, schickte Netanjahu per Kurznachrichtendienst Twitter eine deutliche Botschaft nach Kairo: "Danke an die ägyptische Regierung und ihre Sicherheitsdienste für ihre Rolle als Vermittler des Deals." Die Beziehungen zwischen Kairo und Jerusalem galten nach dem Sturz des ägyptischen Dauerpräsidenten Hosni Mubarak und insbesondere nach dem Sturm auf die israelische Botschaft in Kairo mit drei Toten im August als schwer belastet. Insofern wäre der Gefangenenaustausch auch ein dringend benötigter diplomatischer Erfolg für die ägyptische Militärregierung.

Kritik kommt hingegen von der palästinensischen Regierung im Westjordanland: "Die Hamas hätte einen besseren Handel vereinbaren können", sagte der Minister für die Belange palästinensischer Häftlinge, Issa Karaki, in Ramallah. Die auf einen friedlichen Ausgleich mit Israel setzende Regierung von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in Ramallah ist mit der Hamas zerstritten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: