Israel:Brücken zu Palästina

"Es gibt auch nichtkriegerische Möglichkeiten, den Raketenbeschuss auf Israel zu stoppen": eine innerjüdische Kritik des Autors Rolf Verleger an der Politik Israels.

Martin Forberg

Rolf Verleger, Psychologieprofessor in Lübeck und Mitglied im Direktorium des Zentralrates der Juden in Deutschland ist ein profilierter Kritiker der israelischen Politik. Im Sommer 2006 forderte er den Zentralrat zu einer kritischen Distanz gegenüber Israels Kriegsführung im Libanon auf. Danach initiierte er mit 70 anderen jüdischen Erstunterzeichnern die Erklärung "Schalom 5767" (benannt nach dem Jahr 2006/2007 im jüdischen Kalender). Es ist ein Appell an die Bundesregierung, sich für einen dauerhaften Frieden in Israel/Palästina einzusetzen und den Boykott der Hamas-Regierung zu beenden.

Israel: Ultra-orthodoxe Juden beobachteten bei dieser Momentaufnahme die Kampfhandlungen im nördlichen Gaza-Streifen. Das Foto entstand am 6. Januar.

Ultra-orthodoxe Juden beobachteten bei dieser Momentaufnahme die Kampfhandlungen im nördlichen Gaza-Streifen. Das Foto entstand am 6. Januar.

(Foto: Foto: dpa, Archivbild)

Im Jahr 2009 spricht er sich unter dem Eindruck der israelischen Gaza-Offensive wiederum gegen eine Dämonisierung dieser Organisation aus. Es gebe auch nicht-kriegerische Möglichkeiten, den Raketenbeschuss auf südisraelische Städte zu stoppen, so Verleger. In Israel/Palästina gehe es nicht um einen Konflikt von Gut und Böse, sondern um einen "Streit um ein Stück Land, das den palästinensischen Arabern Heimat war und den Juden als einzig mögliche Heimat erschien".

Die Verantwortung Israels sieht er darin, dass das Land der 1948 geflüchteten und vertriebenen Palästinenser enteignet und ihre Rückkehr verhindert wurde. In den 1967 besetzten palästinensischen Gebieten halte ein Zustand an, der die arabische Bevölkerung in einem rechtlosen Zustand lasse und für sie würdelos und erniedrigend sei. Deeskalation sei nötig, "um durch Verhandlungen, Verständnis für die Position der Gegenseite, Entschädigungen, Kompromisse" zu einer Lösung zu kommen.

Wie ein roter Faden durchzieht Verlegers jüdisches Selbstverständnis das Buch: das Kind von Überlebenden des Holocaust wuchs im schwäbischen Ravensburg "zwischen Anpassung und Judentum" auf. Die Sabbat-Abende und das Pessachfest vermittelten ihm ein "Gefühl von Heimat". Jude zu sein bedeutet für ihn, stolz auf die jüdische religiöse Tradition zu sein und sich dem jüdischen Staat zugehörig zu fühlen. Eine kritische Zugehörigkeit, keine Identifikation. Die jüdische Geschichte sei vom Gegensatz zwischen religiöser Kraft und weltlicher Macht geprägt.

Verleger bekennt sich zur religiösen Kraft und beruft sich auf die Tradition der Propheten, die stets gegen "nationalen Größenwahn" predigten. Vor allem aber verweist er auf die jüdische Tradition der Nächstenliebe. Die sei dadurch erschüttert worden, dass die Position einer radikalen Minderheit schon vor der Gründung des Staates Israel in der zionistischen Bewegung tonangebend wurde: die " Revisionisten" traten für eine Politik der Konfrontation mit den Arabern in Palästina ein. Ihr Ziel, einen starken jüdischen Staat zu schaffen, erhielt als Folge der Nazi-Barbarei weiteren Zuspruch.

Keinen Moment relativiert Verleger die Bedeutung des Holocaust. Er zählt selbst seine engsten ermordeten Verwandten auf. Zugleich fragt er pointiert: "Die Erschießung meiner Großmutter Hanna dafür, dass sie in Berlin ohne Gelben Stern zum Friseur ging, gibt sie dem Staat Israel aktuell das Recht, die Bevölkerung Gazas auszuhungern?"

Für viele Juden sei an die Stelle von Religion und Ethik ein idealisiertes Verhältnis zum Staat Israel getreten. Das führe dazu, dass Kritik an Israels Politik als Verrat angesehen werde. Nichtjüdische Deutsche seien mit einer solchen Kritik enorm zurückhaltend. Und dies aus moralisch guten Gründen mit schlechten moralischen Folgen: Sie wollten anders sein als ihre Vorfahren und vermeiden, dass Kritik an Israel als antijüdisch verstanden werde. Ihre Zurückhaltung trage aber dazu bei, "dass weiter neues Unrecht geschieht und die Welt immer tiefer in einen Strudel von Gewalt gerät".

Verleger nennt hier etwa den Einfluss der deutschen Regierung in der EU, der häufig einen friedenspolitisch notwendigen Druck auf Israel verhindere. Während der Gaza-Offensive in diesem Jahr waren sich prominente deutsche Politiker in ihren einseitigen Schuldzuweisungen an die Hamas einig. Verlegers Darstellung dieser neuen deutschen Einheitspartei trägt fast groteske Züge. Der Autor präsentiert einen Strauß engagierter Denkanstöße.

Nicht alle seine Thesen sind dabei befriedigend: So sollten etwa die Zusammenhänge zwischen den Traumata, die durch den Holocaust hervorgerufen wurden und der heutigen Idealisierung des Staates Israel in Teilen der jüdischen Gemeinschaft genauer untersucht werden. In jedem Fall macht seine Sicht die jüdische Vielfältigkeit deutlich. Sein Ansatz schlägt Brücken zum palästinensischen Volk, in einer Zeit, in der das bitternötig ist. Und vielleicht sogar erhalten deutsche Politiker hier Anstöße für eine ausgewogenere Nahostpolitik.

ROLF VERLEGER: Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht. PapyRossa (2. aktualisierte und erweiterte Auflage), Köln 2009. 183 Seiten, 12,90 Euro.

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