Islamisten-Vormarsch im Irak:Riskantes Ende einer Ordnung

Die islamistischen Milizen im Irak führen nicht nur einen heiligen Krieg. Sie wollen auch jene Grenzen im Nahen Osten abschaffen, die die Europäer nach dem Ersten Weltkrieg in einem perfiden Geheimvertrag gezogen haben. Eine höchst gefährliche Entwicklung - auch für den Westen.

Ein Kommentar von Tomas Avenarius

Das Foto ist banal, aber das tut seiner historischen Wucht keinen Abbruch. Aufgenommen wurde es jüngst an der irakisch-syrischen Grenze, und es zeigt Kämpfer der Islamistentruppe Isis, die mit einem Bagger den Sandwall zwischen den beiden Ländern niederwalzen. Das Bild kursiert im Internet, mit folgendem Text: "Die Löwen des islamischen Staats reißen die Barrieren ein zwischen dem Irak und Großsyrien!" Die Botschaft: Die Extremisten führen nicht nur einen Heiligen Krieg. Sie zerstören auch die fast einhundertjährige Staatenordnung im Nahen Osten. Sie legen die Axt an das Sykes-Picot-Abkommen, jenen Geheimvertrag, in dem die imperialistischen Mächte Großbritannien und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg die Region aufteilten und ihr ihre bis heute geltende Gestalt und ihre Grenzen gaben.

Die Islamisten zerstören die von Europäern gezogenen Grenzen

Aufhalten lassen sich die Kämpfer der sunnitischen Isis-Miliz, die aus Syrien über die Grenze gekommen sind, derzeit nicht. Sie kontrollieren inzwischen weite Teile des Nordirak, bedrohen die Hauptstadt Bagdad - und die Macht der schiitischen Regierung dort. Es mag absurd erscheinen, dass eine bestens bewaffnete Armee wie die irakische beim Ansturm von ein paar tausend Militanten in Panik flieht. Doch der rasche Vormarsch der Isis-Kämpfer und die Bresche im Grenzwall zwingen zu zwei unangenehmen Einsichten: Zum einen ist die islamistische Militanz grenzüberschreitend, fast völkerverbindend. Zum anderen betreiben die Isis-Führer ein höchst gefährliches Spiel, von dem die Regierungen in dieser explosiven Region zu Recht meist die Finger gelassen haben: Sie stellen die Grenzen des Nahen Ostens infrage. Die Militanten haben bereits ein "Emirat" geformt, das von Nordsyrien tief hineinragt in den Irak.

Mit dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916 hatten Briten und Franzosen das Territorium des Osmanischen Reichs am Reißbrett in Nationalstaaten zerlegt und so ihre Kontrolle über den neuen Nahen Osten sichergestellt. Die Region wird seitdem von Kriegen, Staatsstreichen, Aufständen erschüttert.

Noch explosiver wurde die Lage nach der Gründung Israels 1948. Die neuen Staaten und Grenzen waren künstlich, oft verhasst. Trotzdem hielten sich die arabischen Herrscher - abgesehen von den frühen Waffengängen gegen Israel - bis heute zumeist an den Ordnungsrahmen des Sykes-Picot-Abkommens. Das ist paradox: Der perfide Geheimvertrag hat die meisten Probleme der arabischen Welt erst geschaffen. Zugleich garantiert das Abkommen heute das Zusammenleben der Staaten, welche wiederum oft glauben, die von Franzosen und Briten heraufbeschworenen Grenzstreitigkeiten und ethnisch-religiösen Konflikte nur blutig lösen zu können.

Fundamentalisten mit Scheuklappen

Den Isis-Zeloten ist das egal. Sie kennen nur die Umma, die alle Grenzen überschreitende Gemeinschaft der Muslime. Sie sagen, der echte Islam kenne keine Einzelstaaten, der Prophet habe ein Reich geschaffen, kein Sammelsurium aus Fürstentümern. Das mag stimmen. Aber in der Realität wurde Mohammeds Grundidee aufgeweicht, die islamische Welt zerfiel rasch in Dynastien und Kleinreiche. Selbst das Osmanische Reich war nur ein Flickwerk mit dem Kalifen als Pro-Forma-Herrscher über seine vielen Vasallen.

Die Fundamentalisten aber blicken mit Scheuklappen zurück in eine glorifizierte Vergangenheit. Sie halten die moderne nahöstliche Ordnung für falsch und wollen sie ersetzen, zunächst durch Emirate, in denen die Sunniten des Irak und Syriens zusammen leben, dann durch die Umma. So betreibt Isis den Zerfall des Irak und Syriens. Mehr noch: Auch Libanon gehört für die islamistischen Phantasten zu einem "Großsyrien", ebenso ein Teil Jordaniens. Die Militanten rütteln am nahöstlichen Status quo, sie gerieren sich wie Staaten und lösen zudem al-Qaida als Doyen des Terrors ab. Das bedroht die USA und Europa noch mehr als die vor Schreck erstarrte Regierung in Bagdad. Es bedeutet noch mehr Krieg, noch mehr Terror, noch mehr Flüchtlinge, dazu eine Bedrohung der Ölrouten, und Terror-Enklaven, in denen Osama bin Ladens Gesinnungsenkel neue Anschläge planen können.

Zwölf Jahre nach Beginn des "Krieges gegen den Terror" stehen die USA und ihre Verbündeten vor einem Scherbenhaufen. Sie sind viel zu früh aus dem Irak abgezogen. Sie sind dabei, Afghanistan gemeinsam mit den Europäern Hals über Kopf sich selbst zu überlassen. Neue Terror-Milizen entstehen, in Jemen, in Libyen, in Nigeria. Das sollte denen, die ein sofortiges Ende des Anti-Terror-Kampfs fordern - und aller damit verbundenen innenpolitischen Zumutungen in Form von Überwachung -, doch zu denken geben. Ja, der Preis ist hoch. Das Risiko einer Niederlage ist es aber auch.

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