Islamischer Staat:Wann sich der IS zu Anschlägen "bekennt"

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Nach dem Terroranschlag in Nizza: Ein Mann gedenkt der Opfer an der Promenade des Anglais

(Foto: David Ramos)
  • Der IS sucht sich genau aus, welche Anschläge er für sich beansprucht. Das sagen Experten, die die Kommunikation der Terrormiliz seit langem analysieren.
  • Teil der konzertierten Propaganda des IS ist die Agentur Amaq, die direkten Zugang zu Kommandostrukturen zu haben scheint.
  • Teil der Kommunikation ist es auch, IS-Anhängern klare Anweisungen zu geben, was vor einem Angriff passieren muss.

Von Hakan Tanriverdi, New York, und Paul-Anton Krüger, Kairo

Manchmal hilft nur Humor. Als also bekannt wurde, dass ein 17-jähriger, unbegleiteter minderjähriger Flüchtling mit Axt und Messer auf Fahrgäste in einem Zug losging und dies anscheinend im Auftrag des Islamischen Staats (IS) tat, war eine der ersten Reaktionen im Internet ein Hashtag.

#ISbekenntsich: zum Beispiel zur neuen Single von David Guetta, zum Untergang der Titanic und zu verschwundenen Socken. Der IS bekennt sich zu allem, also auch zu Angriffen, das ist die Botschaft.

Diese kann man lustig finden oder herzlos, angesichts dessen, was passiert ist. So oder so: Die Botschaft der Hashtag-Aktion ist aller Wahrscheinlichkeit nach falsch.

Mehrere Experten, die die Kommunikationsstrategie des IS seit Jahren analysieren, haben im Gespräch mit der SZ betont, dass die Terrorgruppe sich sehr genau aussucht, wann sie Angriffe und Anschläge für sich in Anspruch nimmt.

Video binnen Stunden bei IS-naher Agentur

"Es muss kein Angriff sein, den sie angewiesen, organisiert oder geplant haben", sagt Richard Barrett, der für die Soufan Group arbeitet. Diese berät Regierungen und Firmen in Sicherheitsfragen. "Es muss ein Angriff sein, bei dem die Menschen über den IS reden und Angst bekommen, dass weitere Angriffe folgen könnten."

Im Fall von Würzburg wurde binnen Stunden ein Video veröffentlicht, das den Täter zeigen soll und das von den Behörden als "authentisch" eingestuft wird. Zu sehen ist ein Mann, der mit Messer in der Hand seine Tat ankündigt und sich als "Soldat des Kalifats" bezeichnet.

Geteilt wurde das Video von einer Gruppe, die sich Amaq nennt und als Nachrichtenagentur in Szene setzt, die dem IS nahesteht. "Sie versuchen zwar neutral aufzutreten, aber für mich ist Amaq zu 100 Prozent dem IS zugehörig", sagt Barrett. Es ist eine Aussage, die sich nicht zweifelsfrei bestätigen lässt, die aber viele Analysten teilen.

Amaq war zuerst 2014 während der Kämpfe um die syrische Grenzstadt Kobanê als Medium in Erscheinung getreten, das über den IS berichtete. Bemühte sie sich zunächst um eine distanziertere Sprache, übernimmt die Gruppe inzwischen auch die Diktion und Sichtweisen des IS. So war bei früheren Anschlägen scheinbar unverfänglich von "Angreifern" die Rede, bei den jüngsten Attacken berichtete die Gruppe allerdings von "Soldaten des Kalifats" - genauso wie der IS seine Kämpfer in seiner Propaganda bezeichnet. Auch beruft Amaq sich immer wieder auf "Sicherheitsquellen" - was mutmaßlich nichts anderes bedeutet, als dass die Gruppe direkten Zugang zu militärischen Kommandostrukturen des IS hat und von dort ihre Informationen erhält, vergleichbar amtlichen Medien in totalitären Staaten.

Veröffentlichung in drei Schritten

Die Rolle von Amaq ist wichtig, weil inzwischen erste Hinweise bei Anschlägen meist über diesen Kanal kommen - und nicht mehr von den offiziellen Propagandakanälen des IS, wie das früher der Fall war, etwa noch bei den Anschlägen von Paris im November, die allerdings auch von IS-Rückkehrern mit direkter Anbindung an die IS-Führung in Raqqa verübt worden waren. Damit bietet Amaq zumindest einen starken Anhaltspunkt, welche Angriffe der IS für sich in Anspruch nehmen will.

"Der IS benutzt in zunehmendem Maße Amaq, um über Angriffe zu berichten, die von IS-Mitgliedern oder -Unterstützern verübt wurden", sagt Michael S. Smith. Seine Firma berät die US-Regierung seit Jahren über die Strategie des IS. "Kurz darauf folgt ein ähnlicher Bericht über Al-Bayan, einem Radiosender des IS. Und schließlich werden detaillierte Informationen veröffentlicht." Amaq ist also Teil einer konzertierten Propaganda-Welle des IS.

Unklar ist derzeit, wie Amaq an das Video herangekommen ist. Smith sagt, dass der IS "die aggressivste und effektivste Rekrutierungs- und Anstiftungskampagne in der Geschichte von Terrorgruppen" führt und im Zuge dessen gezielt Kontakte zu Menschen aufbaut, die er als Unterstützer wahrnimmt. "Diese wissen, wie einfach es sein kann, Videos weiterzuleiten, zum Beispiel über verschlüsselte Plattformen wie Telegram", erklärt Smith. Telegram ist eine von mittlerweile vielen Apps, bei der Nachrichtenstränge vor unbefugtem Zugriff abgesichert sind. Amaq benutzt diese Kanäle, um ihre Botschaften zu senden, dazu verfügt sie über eine selbst programmierte App. Im Internet werden diese Botschaften dann tausendfach über soziale Medien von Anhängern weiterverbreitet.

Klare Anweisungen für Anhänger

Teil der Kommunikation ist es auch, IS-Anhängern klare Anweisungen zu geben, was vor einem Angriff passieren muss. "Der IS nimmt Angriffe für sich in Anspruch, wenn ein Individuum der Anweisung folgt, wie sie 2014 in Dabiq (ein Magazin, das der IS per Internet verbreitet; Anm. d. Red.) dargelegt wurde", sagt Smith. Sie müssen demzufolge angeben, dass sie im Sinne des IS handeln. Wie das geschieht, bleibt den Angreifern überlassen. Per Video wie in Würzburg, per Telefon-Anruf an die Polizei, wie im Fall von Orlando.

Es ist ein Detail, viel gehört nicht dazu. Es zeigt aber, dass die Attentäter IS-Dokumente gelesen haben und dementsprechend handeln.

"Seit 2014 ruft der IS seine Anhänger dazu auf, entweder in das sogenannte Kalifat auszuwandern oder aber den Dschihad nach Hause zu bringen", sagt Smith. Seit Mitte 2015 werden die Anhänger vor allem zu Letzterem aufgefordert. Das passiert wohl auch deshalb, da die Terroristen davon ausgehen, die Kontrolle über das von ihnen besetzte Territorium demnächst komplett zu verlieren. Anschläge im Westen sind für den IS also wirkmächtig.

Nur in wenigen Fällen falsch gelegen

Sowohl Barrett als auch Smith betonen, dass der IS sich in nur wenigen Fällen fälschlicherweise zu einem Anschlag bekannt habe. Beim Angriff auf das Bardo-Museum in Tunesien meldete sich der IS zum Beispiel. Doch Analysten gehen davon aus, dass eine Gruppe dahintersteckt, die zu al-Qaida gehört.

Im Fall des Orlando-Angriffs gab die CIA bekannt, dass es zwischen dem Angreifer Omar Mateen und dem IS keinerlei Verbindungen gegeben haben soll. Für den IS spielt das aber keine Rolle, da Mateen vor seinem Massenmord die Polizei anrief und dem selbsternannten Kalifen Abu Bakr al-Bagdadi seine Treue schwor.

Im Fall von Nizza ist bekannt, dass Mohamed Lahouaiej Bouhlel Drogen nahm, Alkohol trank und Schweinefleisch aß - im Reich des IS wäre er dafür wohl gefoltert oder getötet worden. Doch in den zwei Wochen vor dem Angriff habe sich Bouhlel ausgiebig für den Islam und die Terrorgruppe interessiert. Sein Onkel gab an, dass Bouhlel von einem IS-Mitglied in Nizza rekrutiert worden sein soll.

Die Journalistin Jenan Moussa hat sich auf den IS spezialisiert und in insgesamt 21 Tweets dessen Strategie beschrieben. "Die Welt geht traditionellerweise dann von einem Terrorangriff aus, wenn Mitglieder der Gruppe Training, Geld und Befehle von einer Führungsriege bekommen, um einen Angriff zu verüben."

Moussa beschreibt das als "old-school thinking". Alte Schule, ungültig im Fall des IS. "Prinzipiell ist es so: Jeder kann jederzeit an jedem Ort ein 'Soldat des Kalifats' werden. Ohne Training, ohne religiöses Wissen, ohne direkte Verbindung."

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