Islamischer Staat:Mit der Taktik von Parasiten

Islamischer Staat: IS-Kämpfer in angeberischer Pose: Die Anführer des IS wissen, wie weit sie Betriebe melken können, ohne diese wirtschaftlich zu ruinieren.

IS-Kämpfer in angeberischer Pose: Die Anführer des IS wissen, wie weit sie Betriebe melken können, ohne diese wirtschaftlich zu ruinieren.

(Foto: AP)

Das Kalifat des Islamischen Staats nimmt Gestalt an, weil es den Dschihadisten gelingt, sich die Loyalität vor allem der armen Bevölkerung zu erkaufen. Ein Einblick in das Räderwerk einer Verbrecherbande.

Von Ronen Steinke

Was war die erste Frage, welche die bärtigen Eroberer stellten, nachdem sie in der syrischen Stadt al-Khafsa eingefallen waren, östlich von Aleppo, und nachdem sie dort mit ihrer ersten Runde mörderischer Säuberungen durch waren? Die Szene wird von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) selbst beschrieben, in ihrem mehrsprachigen Onlinemagazin Dabiq, das auch als Anleitung für angehende Dschihadisten dienen soll.

Die IS-Eroberer luden zu einem Treffen mit Stammesältesten. Zu einer Runde Tee. Sie fragten nach den "Namen von Waisen, Witwen und Bedürftigen", um ihnen Almosen und Wohlfahrt auszahlen zu können. Im Anschluss, behauptet Dabiq, priesen sie noch "Vorteile und Dienstleistungen", die man der eroberten Bevölkerung zu bieten habe. Sicherung der Versorgung mit Nahrungsmitteln, "insbesondere Brot". Und: Senkung der Kriminalität.

Nullrunden für den Dschihad

Nach allem, was aus dem IS-Hinterland nach außen dringt - vor allem durch die Berichte von Flüchtlingen -, gibt es solche Szenen tatsächlich. Die Dschihadisten greifen dafür in ihre Kriegskasse. Von dem Geld, das sie rauben, verteilen sie einen Teil um; von den Millioneneinkünften, die sie "Steuern" nennen und die man besser als Schutzgeld bezeichnen könnte, finanzieren sie auch Sozialleistungen.

In der Stadt Raqqa brachten sie die Stromversorgung wieder in Ordnung, dann verteilten sie Nahrungsmittel. Das bringt ihnen den Zuspruch der Bevölkerung, was ihren Vorgängern, den Al-Qaida-Kämpfern im Irak, nicht gelungen war. Geld gewinnt vielleicht keine Kriege. Aber Geld entscheidet darüber, ob sich ein Herrscher halten kann. Mit Geld kann man Loyalität kaufen.

Beispiele dafür gibt es genug, die IS-Strategen werden sie studiert haben, sie verfolgen schließlich eine Strategie, die schon die Islamisten von Boko Haram in Nigeria oder al-Shabaab in Somalia erprobt haben, die ihrerseits an "Kalifaten" arbeiten: Missliebige Teile der Bevölkerung werden mit aller Brutalität vertrieben; aber diejenigen, die dann noch da sind, müssen bei Laune gehalten werden.

Al-Shabaab hat Geld für Rentner und Witwen nicht nur versprochen, sondern meist auch ausgezahlt, schreibt der deutsche Buchautor und Afrika-Experte Marc Engelhardt, der ihre Finanzen untersucht hat. Somalia gibt aktuell auch ein mahnendes Beispiel dafür, was geschieht, wenn einer Miliz das Geld für Soziales ausgeht: Al-Shabaab hat kürzlich die Kontrolle über den größten Markt von Mogadischu und über zwei Handelshäfen eingebüßt, seitdem sind ihre Einnahmenquellen versiegt. So muss die Miliz nun mancherorts ihre "Steuersätze" verdoppeln oder die Zahlung von Witwen- und Waisengeldern aussetzen; Nullrunden für den Dschihad. Das ruft Widerstand in der Bevölkerung hervor, und es schwächt ihre Herrschaft.

Glücklich die Terrormiliz, die das vermeiden kann. "Wenn man als Eroberer Erfolg haben will, dann wird man kaum ein hartes Sparprogramm einführen in Gegenden, die man unterworfen hat", sagt Tom Keatinge, Terror-Finanzexperte eines sicherheitspolitischen Think-Tanks in London, des Royal United Services Institute.

Al-Qaida hat sich ökonomisch verkalkuliert

Es bringt dem IS Vorteile, dass er seine Kämpfer besser bezahlt, als es andere Milizen in der Region tun. Aber auch Verwaltungsbeamte bekämen ein verlockendes Angebot, sagt Keatinge: die Fortzahlung ihres alten Gehalts. Gelingt es dem IS nicht, die Bevölkerung auf seine Seite zu holen, dürfte es ihm ergehen wie al-Qaida im Irak 2006/2007: Die Dschihadisten hatten damals Chaos gestiftet, der Strom fiel aus, Märkte mussten schließen. Die sunnitische Bevölkerung lehnte sich gegen sie auf und schüttelte sie letztlich ab. Einer ihrer Strategen analysierte hinterher die Gründe, eine Studie der US-Militärakademie in West Point zitiert daraus einen entscheidenden Punkt: "schlechter Einsatz finanzieller Ressourcen". Nicht nur militärisch, auch ökonomisch habe al-Qaida zu wenig nachhaltig geplant.

Seit Jahren treibt der IS Schutzgelder ein

Im heutigen IS-Hinterland herrschen zwar Angst und Unfreiheit, aber nicht Chaos. Es gibt Strom, Schulen und Märkte sind geöffnet, und die "Steuereintreiber" des IS gehen ihrer Aufgabe in organisierter Ruhe nach. Sie verlangen von Unternehmern ein paar Prozent des Gewinns. Lastwagen werden an Checkpoints abkassiert.

Als kürzlich in der nordirakischen Stadt Mossul die Banken wieder öffneten, da führte die Terrormiliz eine "Gebühr" auf Abhebungen ein. Dabei kommt dem IS zugute, dass dies für die Bevölkerung in manchen Teilen des Irak nicht so neu ist, wie es klingt: So wie die Mafia Teile Neapels ökonomisch beherrscht, so hat auch der IS schon seit Jahren ökonomisch die Kontrolle über sunnitische Zentren wie Mossul oder Falludscha.

Die Menschen zahlen Schutzgeld, der Staat weicht mehr und mehr zurück: Erst aus dieser Position der ökonomischen Stärke heraus hat der IS nun nach noch mehr Macht gegriffen. Und mit dieser finanziellen Macht lädt er nun auch Ingenieure, Ärzte und Fachleute aller Art aus dem Ausland ein, um seine Reihen zu stärken - freilich wiederum nicht umsonst.

Die Anführer des IS wissen aus Erfahrung, wie weit sie örtliche Betriebe melken können, ohne diese wirtschaftlich zu ruinieren. Alle einträglichen Wirtschaftszweige in den eroberten Gebieten - darunter auch der lukrative Ölhandel - werden am Laufen gehalten. Die Neuerung besteht nur darin, dass der IS die Gewinne einstreicht: durch Überwachung, Bedrohung, Erpressung der vielen kleinen Händler und Betreiber von mobilen Raffinerien, deren täglich Brot der Schmuggel ist.

Das Modell der Erpressung und Umverteilung hat nicht zuletzt einen strategischen Vorteil für den IS. Westliche Staaten können Konten einfrieren oder Banken sanktionieren, so viel sie wollen - solange der IS die acht Millionen Menschen, die unter seiner Herrschaft leben, derart "besteuern" kann, sprudeln seine Einnahmen weiter.

Ein Problem, auf das jetzt auch der amerikanische Vize-Finanzminister David Cohen hingewiesen hat: "Uns ist nicht daran gelegen, die komplette Wirtschaft in den Gebieten, in denen der IS operiert, in die Knie zu zwingen." Genau das wäre aber nötig, um den Parasiten IS zu schädigen. Ein solches Geschäftsmodell kann man nur lahmlegen, wenn man die gesamte Zivilbevölkerung in den Ruin treibt.

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